Flörsheimer Kriegsschicksale

„Tagebuch 1942“: Peter Beckers packende Lesung in der Kulturscheune fesselte das Auditorium

 

FLÖRSHEIM (drh) – Es ist knapp 70 Jahre her, dass in Flörsheim Bomben fielen. Der Autor Peter Becker weckte bei den anwesenden Zeitgenossen mit seiner Lesung in der Kulturscheune am Mittwochabend viele Erinnerungen an diese Zeit des Schreckens. Fünf Tote in der Bombennacht, 16 Tote an der Ostfront, ein Euthanasieopfer in einer sogenannten Heilanstalt und die Vertreibung oder Ermordung aller jüdischen Einwohner war die grauenvolle Bilanz des Jahres 1942.
Zum Erscheinen seines Werkes „Tagebuch 1942“ trug Becker gemeinsam mit Peter-Josef Keller und Ralf Keß die Ereignisse des Kriegsjahres vor, schilderte traurige Einzelschicksale, unfassbares Kriegsgebaren und lieferte Ansätze zum Nachdenken. Familie Litzinger traf es beispielsweise besonders hart, verlor sie im Krieg doch vier von fünf Söhnen. Georg fiel, wie auch Bruder Heinrich, an der Ostfront, Peter galt als vermisst und Sohn Philipp starb 1946 an den Spätfolgen seiner Kriegsverletzungen. Einzig und allein der jüngste Sohn Hans überlebte den Zweiten Weltkrieg. „Was die Familie meines Vaters durchgemacht hat, ist schlimmer als im Film vom Soldat James Ryan“, zitierte Peter Becker aus einem seiner Interviews mit dem Sohn des einzig überlebenden Kindes. Auch Familie Morgenstern erfuhr ähnliches Leid, galten doch auch bei ihr vier von fünf Buben als vermisst. Sohn Jakob wurde deshalb aus der kämpfenden Truppe zurückgezogen und im Ersatzheer eingesetzt, um die Familie vor einem weiteren Blutopfer zu bewahren. 
Neben diesen Familientragödien schilderte Becker in seinem Tagebuch auch politische Entwicklungen und die Reaktionen der Menschen. So berichtete er, dass am 23. März 1942 der Erlass erging, alle Kruzifixe aus den Schulen zu entfernen. Schuldiener Josef Thomas allerdings weigerte sich und ließ die Kreuze an der Wand. Die Nationalsozialisten schritten wenig später selbst zur Tat und zerbrachen die Kreuze über einem Betonpfosten. 
Peter Becker scheute sich auch nicht davor, die Geschichte der eigenen Familie zu schildern und berichtete vom Vater, der in die harten Kämpfe um Rostow eingebunden war. Eine Wochenschau-Einspielung veranschaulichte das Geschehen der hart umkämpften Kleinstadt im Osten. Im Krieg der Weltanschauungen waren barbarische Gewaltakte an der Tagesordnung. Becker nannte hierfür Beispiele, er sprach etwa von 300 Rotarmisten, die in einem sogenannten Gaswaggon ermordet wurden. Am Rande einer Schlucht wurden Juden erschossen, danach wurden ihre kleinen Kinder noch lebendig in die Grube hinabgestoßen. Nach Aufgabe eines deutschen Lazarettes hängten Russen die verwundeten Deutschen kopfüber auf, übergossen sie mit Benzin und zündeten sie an. 
In einem persönlichen Aufsatz fragte Becker nach den zehn Geboten und dem Einfluss des Christseins auf solch unvorstellbare Kriegshandlungen. Peter Becker erinnerte an den Flörsheimer Franz Bechtluft, der, als Soldat in der Ukraine einmal neben einem beinamputierten Russen sitzend, eine ältere Frau, die eine Milchkanne und ein Kleinkind bei sich hatte, um Milch fragte. Die Frau machte verständlich, dass die Milch fürs Kind gedacht sei und so ließ Bechtluft sie ziehen. Die Frau kehrte jedoch wenige Meter später um und teilte die Milch mit ihm. Niemals vergessen konnte Bechtluft aber auch die Tatsache, dass die drei Männer, die er einst gefangengenommen hatte, vom Vorgesetzten niemals in ein Kriegsgefangenenlager überführt worden waren. Laut Bechtluft sperrte der Vorgesetzte die Männer stattdessen in einen Keller und ermordete sie kaltblütig mit dem Wurf einer Handgranate. 
Ein weiterer Flörsheimer, Heinrich Flesch, hatte im Krieg als Sanitäter in einem Lazarett assistiert. Er besaß keinen Mantel und so rieten die Kameraden, einen solchen aus einem russischen Haus zu stehlen. Flesch ging also in ein Haus, nahm einen Mantel vom Haken, brachte ihn später aber wieder zurück. Er konnte den Anblick des Mütterchens, das er soeben bestohlen hatte, nicht ertragen. 
Auch in Flörsheim selbst gab es solch „kleine Helden“, war sich Jakob Dehn als Bäckermeister doch beispielsweise nicht zu schade, seinen jüdischen Nachbarn ab und an einen Kuchen in den Ofen zu schieben und ihnen für den Tag des Abtransportes Brötchen zu backen. Dass es deren Henkersmahlzeit war, begriff Jakob Dehn erst im Nachhinein.
 Neben den „kleinen Helden“ gab es aber auch Täter in Flörsheim. Becker zeigte ein Bild, das Paul Flesch am Mainufer aufgenommen hatte. Auf der Fotografie ist eine Schar von Flörsheimern zu sehen, die sich daran „erfreut“, den zerstörten und in Brand gesetzten Totenwagen der Synagoge in den Main zu stoßen. 
Fast schon rührend hingegen mutet die Anekdote über Dackel „Seppel“ an, der einst dem Jungen Karl Mohr gehörte. Seppel habe in der Bombennacht solange am Bruder Jakob herumgezerrt, bis dieser trotz seines Widerwillens in den Luftschutzkeller gegangen sei. Kaum angekommen, sei eine Bombe aufs Haus gefallen und hätte das gesamte Anwesen in Schutt und Asche gelegt. Dackel Seppel habe im Keller aber ein Lichtfenster im Schutt entdeckt und die Familie ins Freie geführt. Später sei der sonst so aufmerksame Hund jedoch von einem Tanklastzug der Amerikaner überfahren worden. 
Weitere Berichte und Anekdoten über das Leben im Jahr 1942 sind im Buch Peter Beckers nachzulesen. 
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