Rundgang durch eine verlorene Welt

Erinnerung an jüdische Kultur vor Ort / Nach neuen Erkenntnissen 32 Flörsheimer Holocaustopfer

Werner Schiele berichtete, hier an der Außenmauer des ehemaligen Synagogengeländes vor den Gedenktafeln stehend, von den Schicksalen jüdischer Familien aus Flörsheim während des NS-Regimes.?(Fotos: R. Dörhöfer)

 

FLÖRSHEIM (drh) – Werner Schiele führte am Sonntagnachmittag über 80 Besucher zu Schauplätzen jüdischen Lebens in Flörsheim und bewies erneut, dass er wahrer Kenner und Fachmann dieses Geschichtskapitels ist. Zur informativen und detaillierten Führung gehörte auch die Besichtigung der Mikwe, des jüdischen Ritualbades, bei Familie Reinelt.

 

Die erste jüdische Betstube befand sich gegenüber dem Hauptportal der Galluskirche und neben der Gaststätte „Scharfes Eck“. In einem kleinen Haus war 1656 eine sogenannte Winkelsynagoge eingerichtet worden.
Da sich die Kirchenobrigkeit aber an der unmittelbaren Nachbarschaft zur Kirche störte und brandenburgische Truppen das Haus im Jahre 1672 niederbrannten, wurde die Betstube dann einige Meter weiter in einem Haus in der Hauptstraße eingerichtet. 1710 bekam die jüdische Gemeinde dann einen Platz für eine Synagoge in einer kleinen Seitengasse der Hauptstraße, in der heutigen Synagogengasse. Dort wurden bis 1718 ein Gemeindehaus und eine Synagoge errichtet.

Schändung durch NS-Anhänger
Der Innenraum der Synagoge hatte eine Größe von 39 Quadratmetern. Es gab 35 Sitzplätze für Männer im Erdgeschoss und 16 Frauensitzplätze auf einer Empore. Heute sieht man von der 1938 zerstörten Synagoge nur noch die Südwand, auf der aber noch die Reste des Psalms 29, der auf die Wand gemalt worden war, zu sehen sind. Das Gemeindehaus war von dem Abriss verschont worden und war 1939 an den christlichen Gemeindediener veräußert worden.
Am 10. November 1938, dem Tag nach der Reichspogromnacht, war die Synagoge von SA-Leuten aus Rüsselsheim, aber auch von Flörsheimer NS-Anhängern, geschändet worden. Der Davidsstern war vom Dach geholt und Wandteppiche und Thorarollen waren aus ihren Verankerungen gerissen worden. Am Nachmittag wurde die Synagoge durch den Einfall einer Grundschulklasse erneut verwüstet. Die Kinder hatten sich Berichten zufolge mit den Teppichen und Vorhängen verkleidet und weitere Kultgegenstände zerstört. „Ich hab' mit eigenen Augen gesehen, wie der brennende Totenwagen durch den Ort geschoben wurde“, erinnerte sich ein Zeitzeuge.
An der Außenmauer des ehemaligen Synagogengeländes mahnen seit 2008 die Namen von 26 Flörsheimer Holocaustopfern. Werner Schiele gab aber bekannt, dass er mittlerweile 32 Opfer benennen und zahlreiche Gedenktafeln auch um weitere Daten hinsichtlich der Todesorte ergänzen kann. „Mittlerweile haben viele Archive ihre Pforten auch für Privatforscher wie mich geöffnet. Da konnte ich neue Erkenntnisse gewinnen“, erklärte Schiele.

Erzwungene Emigration
In der Kirchgasse zeigte Schiele den interessierten Teilnehmern des Rundgangs das Anwesen der Familie Altmaier. Josef Altmaier erwarb das Grundstück 1905, das heutige Haus wurde 1912 errichtet. Josef Altmaier war zweimal verheiratet, hatte insgesamt zehn Kinder und war von 1901 bis 1920 Vorsteher der jüdischen Gemeinde. Er betrieb in der Hochheimer Straße 4 eine Bäckerei. Sein Sohn Hermann wird seit 1909 als Bäckermeister in den historischen Akten geführt, er führte eine Bäckerei in der Kirchgasse 6.
Schiele gab ein Foto der Kameradschaft 1884 durch die Reihen der Zuhörer. Auf dem Foto war Hermann Altmaier noch 1934 anlässlich der 50. Geburtstagsfeier der Kameradschaft zu sehen. 1933 aber war ihm seine Berufsausübung schon nicht mehr möglich, da ihm die Kreisbauernschaft kein Mehl mehr lieferte, sodass er die Bäckerei verpachten musste. 1938 verkaufte Altmaier seine Bäckerei letztendlich an seinen Pächter und zog nach Frankfurt. Dort wurde er im Zuge der Pogromnacht gefangengenommen und nach Buchenwald deportiert. Drei Wochen später wurde er entlassen.
Altmaier schaffte es, sich über Nordafrika schließlich in die USA abzusetzen. Seine Tochter Lotte konnte Deutschland über einen Kindertransport nach England verlassen, seine Frau Claire fand zunächst in Jugoslawien und dann in Italien Zuflucht, bevor auch sie in die USA emigrierte. 1946 traf sich die Familie in den Vereinigten Staaten an ihrem neuen Wohnort im nördlichen Teil von Manhattan, genannt Washington Heights, wieder.

 

 

 

 

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