Zeugen einer an Ereignissen reichen Zeit

Mit dem „Gemeindediener Wilhelm Kraus“ durch die Flörsheimer Neustadt / FAT lässt Geschichte mit Geschichten lebendig werden

Viele bunte Regenschirme begleiteten Stadtarchivar Hans Dieter Darmstadt (mit Mütze) bei seinem Rundgang durch die Flörsheimer Neustadt.?(Fotos: A. Kreusch)

 

FLÖRSHEIM (ak) – Trotz trüben Regenwetters hatten sich am Samstagnachmittag, 10. Mai, gut sechzig an der Geschichte Flörsheims interessierte Menschen vor dem Rathaus der Stadt getroffen, um sich, geführt von Stadtarchivar Hans Dieter Darmstadt als „Gemeindediener Wilhelm Kraus“, auf einen historischen Rundgang durch die Neustadt zu begeben. Zu Beginn des Stadtrundganges – vor dem Regen im Foyer des Rathauses Schutz suchend – erklärte „Ausscheller“ Wilhelm Kraus alias Hans Dieter Darmstadt, in welche Zeit man sich begeben würde.

 

Bis etwa 1850 lebten die Flörsheimer noch in ihren alten Stadtmauern, erst dann wurde der „Graben“ zugeschüttet. Schon damals wurde Flörsheim als Flecken oder Marktflecken bezeichnet und hatte mehr „Infrastruktur“ als ein gewöhnliches Dorf. Die Zeit, in der Flörsheim über die Grenzen seiner alten Mauern hinaus wuchs, war ereignisreich. Nachdem 1840 „weit draußen“ der Bahnhof an der Strecke der Taunusbahn in Betrieb genommen worden war, siedelten sich entlang der Bahnhofstraße einige Bauernhöfe und auch einiges an Gewerbe an, auch Gaststätten und Cafés waren dort bald zu finden. So entstand damals etwa der noch immer vielen Flörsheimern in besonderer und guter Erinnerung gebliebene „Schützenhof“ mit seiner gehobenen Gastronomie auf dem Gelände einer Geflügelmästerei und aus einer Unterkunft der Vorgänger der Kolping-Familie ein Raum für wandernde Handwerksgesellen. Auf dem Axthelm-Gelände gab es zunächst eine Mälzerei, dann ein Fuhrunternehmen und schließlich die Kelterei, an die sich sicher auch noch viele Flörsheimer erinnern. All dies ist heute nicht mehr zu sehen. Die große Brachfläche vor dem Rathaus kann nicht mehr andeuten, mit wie viel Leben sie einmal gefüllt war. Mit einer gewissen Wehmut denken viele Flörsheimer daran zurück.

„Lauck der Große“
Auch das Flörsheimer Rathaus selbst gehört zur Geschichte der Neustadt. Es wurde vom „Kommunalarzt“ Dr. Boerner als Wohn- und Praxishaus gebaut und nach seinem frühen Tod von seiner Witwe und seinen Kindern im Jahre 1918 an den Marktflecken verkauft. Der damalige Bürgermeister Lauck zog dort ein. Der Zeitpunkt zum Verkauf war schlecht gewählt – die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges zeigten sich bald, die Inflation fraß das Geld der Erben aus dem Verkauf einfach auf. Aber auch für Bürgermeister Lauck war das eine schwere Zeit, die er, als einer der größten Bürgermeister Flörsheims, meistern musste. „Lauck und Schleidt waren prägende Nachnamen hier in Flörsheim, die ihren Söhnen gerne die Vornamen ihrer Väter gaben, so dass man sie mit römischen Ziffern durchnummerieren musste. Bürgermeister Lauck könnte man aber einfach – in Anlehnung an Kaiser Karl – 'Lauck den Großen' nennen“, würdigte Stadtarchivar Darmstadt die damaligen Leistungen des Mannes.
Um 1900 hatte Dr. Boerner das erste Auto in Flörsheim – auch das kam in einer Anekdote, die „Wilhelm Kraus“ erzählte, zur Sprache. „Doo fährt joo e Schees unn ess iss koon Gaul devor“, habe ein alter Flörsheimer gerufen, als er den Arzt das erste Mal damit vorbeifahren sah.
Einzig die Turmuhrenfabrik Höckel, deren Gebäude man von der Bahnhofstraße aus sehen kann, gibt es noch heute, auch wenn sie nicht mehr die riesigen Turmuhrwerke von damals herstellt, sondern sich zeitgemäß auf digitale Technik umgestellt hat.
Auch über die im Jahr 1900 eingeweihte evangelische Kirche wusste der Stadtarchivar Interessantes zu erzählen. Ihre Baukosten betrugen 18.500 Mark, ein Arbeiter (der damals zwischen 60 und 70 Stunden wöchentlich arbeitete) verdiente an ihrem Bau 38 Pfennige die Stunde – und bekam pro Tag noch eine Flasche Bier im damaligen Wert von 18 Pfennigen dazu. Noch heute bildet der im neugotischen Stil von Ludwig Herrmann entworfene Bau mit dem Rathaus und der alten Post (eingeweiht 1902) auf der anderen Seite ein gelungenes Ensemble. „Der Gleichklang der Gebäude wirkt heute noch“, lobte der „Gemeindediener Kraus“. Allerdings musste inzwischen die einst wunderschöne Jugendstilvilla des Café Heckmann dem Neubau der Sparkasse weichen, ebenso die Bäckerei Hey auf der anderen Seite der Bahnhofstraße. 

Interessante Details
Der weitere Weg führte die Gruppe an den beiden Gaststätten „Zum Taunus“ und (ehemals) „Zum Bahnhof“ vorbei, die der damalige „Hirschwirt“ für seine Kinder in wirtschaftlich günstiger Bahnhofsnähe um die Jahrhundertwende gebaut hatte. Im „Taunus“ gelangte sein Schwiegersohn Kaspar Kraus mit einer Binding-Niederlassung zu Wohlstand. Hans Dieter Darmstadt wusste nicht nur darüber, sondern etwa auch über die Flörsheimer Eiskeller, die im Winter mit Eis aus dem Main bestückt wurden, welches dort bis zum Sommer für Kühlung sorgte, zu erzählen. „Das ist aber interessant – hab ich bis jetzt auch noch nicht gewusst“, war immer mal in Gesprächen zwischen den Teilnehmern des historischen Stadtrundganges zu hören. Am Bahnhof vorbei ging es durch die Kloberstraße (benannt nach dem für Flörsheim sehr wichtigen Arzt Dr. Klober, der den Großteil des Anfangskapitals für das erste Flörsheimer Krankenhaus vererbte), zum heutigen Krankenhaus, weiter in Richtung Riedschule und schließlich zur Kulturscheune.
Dort endete zwar der regnerische Rundgang durch die Stadt, aber es ging für seine Teilnehmer durchaus gar nicht „trocken“ weiter: das Flörsheimer Amateurtheater (FAT) hatte Texte von Luzia Platt, Ralf Keß und Hans Jakob Gall unter der Regie von Luzia Platt zu sehr unterhaltsamen kleinen Szenen aus der Geschichte Flörsheims arrangiert.

Heiter bis nachdenklich
Da schwelgten dann Marri (Jutta Mohr) und Kadderine (Edith Theimer) in Erinnerungen an den Schützenhof, Birgit Herzig-Moter schwärmte vom verstorbenen Dr. Boerner und der Honnes (Ralf Keß) schmiedete beim Friseur Schorsch (Peter Keller) Pläne, wie man Flörsheim zu einem lukrativen Marienwallfahrtsort machen könnte. Lenchen (Laura Schröter) erzählte deprimiert von ihrem Rausschmiss bei der Post am Ende des Ersten Weltkrieges und Pidder (Karl Heinz Platt) überlegte mit Heine (Hans-Joachim Schäfer), ob man mit einer Pendelbahn vom Main bis zu den Kolonnaden das bei einer Bebauung des Axthelm-Geländes zu befürchtende Parkplatzproblem lösen könne. 
Die Zuschauer konnten in den Geschichten das gerade in der Stadt Gesehene noch einmal Revue passieren lassen, in ihren Gedanken konnten sich die alten Gebäude dank der Schauspieler noch einmal mit Leben füllen.
Wer Lust bekommen hat, sich nun selbst einmal auf eine interessante kleine Zeitreise in die historische Neustadt von Flörsheim zu begeben, hat am Samstag, 14. Juni, noch einmal Gelegenheit dazu. Informationen und Karten dafür sind im Stadtbüro am Bahnhof zu bekommen (Telefon 06145/955110, Email stadtbuero-bahnhof[at]floersheim-main[dot]de).

 

 

 

 

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