An den Ereignissen zerbrochen

Zwölf neue Stolpersteine erinnern an Hattersheimer Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns

HATTERSHEIM (idl) – Am Dienstag letzter Woche wurden in Hattersheim und Okriftel insgesamt zwölf Stolpersteine verlegt, die an Opfer des NS-Regimes erinnern. Sie erhöhen die Zahl der seit 2010 verlegten 46 Stolpersteine, die mittlerweile in allen drei Hattersheimer Stadtteilen zu finden sind.

 

Bürgermeisterin Antje Köster und die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Opfergedenken durften eine erfreulich große Resonanz feststellen. „Dass wir heute so viele Bürgerinnen und Bürger begrüßen können belegt, dass Hattersheim sich seiner geschichtlichen Verantwortung bewusst ist“, begrüßte Antje Köster die gut 50 Teilnehmer der Stolpersteinverlegung am ersten Standort in der Weingartenstraße, an dem vor dem Anwesen Weingartenstraße 9 vier Stolpersteine für Abraham Löwenstein, Adolf Löwenstein, Lina Löwenstein und Selma Löwenstein gesetzt wurden.
Nach Verlesung der Biografie durch Alexander Quirin begaben sich die Teilnehmer in die Hauptstraße zur Verlegung eines Stolpersteins für Erna Mitter. Erna Mitter wurde im August 1942 in das Konzentrationslager Ravensbrück eingeliefert und nur zwei Monate später nach Auschwitz deportiert. Laut der dort ausgestellten Sterbeurkunde verstarb sie am 20. Oktober 1942. Ihr Schicksal belegt nachhaltig den Zynismus und die Menschenverachtung, wie sie im Dritten Reich von Staatsseite aus systematisch betrieben und gefördert wurden. Erna Mitter kam am 2. Januar 1906 als Tochter von Julius Jakob und Klara Nassauer, geb. Stein, in Hattersheim auf die Welt. Schon ihr Vater war in Hattersheim geboren, seine Eltern, Mayer Nassauer und Fany, geb. Strauß, stammten aus dem nahegelegenen Idstein. Ein Jahr nach Erna, am 12. März 1907, wurde ihre Schwester Johanna geboren . 
Im Jahre 1926, also mit 20 Jahren, heiratete Erna Nassauer den drei Jahre älteren Otto Mitter und trat für ihn zum katholischen Glauben über. Im selben Jahr kam am 19. September ihr Sohn Otto Erich zur Welt. Das Ehepaar betrieb gemeinsam ein Friseurgeschäft in der Hauptstraße 9. Inwieweit Erna Mitter aufgrund ihrer jüdischen Herkunft ab 1933 unter alltäglichen Diskriminierungen zu leiden hatte, lässt sich aus den Quellen nicht eindeutig ersehen. Sie enthalten sowohl Aussagen, dass sie das Friseurgeschäft aufgrund rassistischer Diskriminierungen aufgeben musste, als auch gegenteilige Behauptungen, dass sie es allein weiterführte und sogar lokale NS-Funktionäre dort verkehrten. Sicher ist, dass ihr Ehemann eine Stellung bei den Farbwerken in Höchst annahm. Obwohl Erna Mitter nach den 1935 verkündeten Nürnberger Rassegesetzen als „Volljüdin“ galt, war sie formal durch die Ehe mit ihrem „arischen“ Mann zu einem gewissen Grad von diskriminierenden gesetzlichen Bestimmungen ausgenommen. Ihr katholisches Bekenntnis spielte dabei für die NS-Behörden keine Rolle. 
1936 lernte Erna Mitter auf einem Maskenball im Gasthaus zur Krone den neun Jahre älteren, ebenfalls verheirateten, Heinrich K. kennen. Aus einer Fastnachtsliebelei entwickelte sich rasch eine heimliche Liebesbeziehung. Beiden war bewusst, dass sie nicht nur Ehebruch begingen, sondern auch gegen die NS-Gesetze verstießen, da Heinrich K. als „arisch“ galt und ihr Verhältnis damit als „Rassenschande“ angesehen wurde. Entsprechend vorsichtig waren sie darauf bedacht, ihre Beziehung geheim zu halten. Sie verabredeten sich durch kleine Zettelbotschaften an einem zuvor vereinbarten Versteck und trafen sich vor allem im Wald oder anderen abgelegenen Orten für lange Spaziergänge zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Anscheinend versuchten sie auch die Verbindung zu beenden, wurden aber immer wieder zueinander hingezogen. 
Im Frühjahr 1942 wurden sie offensichtlich bei Vertretern der NSDAP denunziert, denn am 30. April informierte die Kreisleitung der NSDAP in Bad Soden die Gestapo über den Verdacht der „Rassenschande“ gegen Erna Mitter. Am 11. Mai wurde sie verhaftet und in das Polizeigefängnis in Frankfurt gebracht. Eine Woche später nahm die Stapo auch ihren Geliebten fest. Wie die Beiden verabredet hatten, leugneten sie zunächst eine nähere Bekanntschaft, aber sehr bald hielt Heinrich K. den Verhörmethoden nicht mehr stand. Am 1. Juni legte er „nochmals zur Sache gehört und eindringlich zur Wahrheit ermahnt“ – wie es im Polizeiprotokoll heißt – ein Geständnis ab. Konfrontiert mit dem Vernehmungsprotokoll machte auch Erna Mitter eine detaillierte Aussage. Schon am folgenden Tag entschied das Amtsgericht Frankfurt die Vollstreckung des Haftbefehls gegen Heinrich K. Nach den NS-Gesetzen war das Vergehen der „Rassenschade“ nur für den Mann strafbar, während der Frau Straffreiheit zugesichert sein sollte, da man in der Regel auf ihre Aussage angewiesen war, um den Tatbestand zu beweisen. Entsprechend wurde Erna Mitter „mangels strafbarer Handlung entlassen“, was allerdings lediglich bedeutete, dass sie „der Geheimen Staatspolizei zur Verfügung gestellt“ wurde – wie das Gerichtsprotokoll vermerkt. Sie verbrachte noch mehrere Wochen in den Händen der Gestapo. Anfang Juli 1942 versuchte ihr Ehemann mit einem Gesuch an die Gestapo ihre Freilassung zu erwirken, doch seine verzweifelten Bemühungen blieben vergeblich. Am 21. August 1942 wurde Erna Mitter in das Konzentrationslager Ravensbrück eingeliefert und zwei Monate später von dort nach Auschwitz deportiert. Laut der dort ausgestellten Sterbeurkunde starb sie am 20. Oktober um 10.40 Uhr.
Ob Erna Mitters Angehörige von ihrem Tod unterrichtet wurden, lässt sich den Quellen nicht entnehmen. Ihr Ehemann ist an den Ereignissen zerbrochen. Zu Beginn des Jahres hatte er außerdem auf seiner Arbeitsstelle bei den IG-Farben eine schwere Chlorvergiftung erlitten, die ihn zu 70 Prozent erwerbsunfähig machte. Angesichts der Umstände erholte er sich nicht davon. Er verlor seine Arbeitsstelle und konnte nur noch gelegentliche Hilfsarbeiten bei der Gemeinde Hattersheim verrichten. Er starb im Alter von 41 Jahren am 25. Januar 1945. Erna Mitters Sohn Otto Erich, der mit 14 Jahren die Verhaftung seiner Mutter hatte miterleben müssen, war nun mit 19 Jahren Vollwaise. Er blieb in Hattersheim und heiratete dort 1953. 
Erna Mitters Schwester Johanna heiratete 1929 in Bleichenbach den zwei Jahre älteren Karl Desch, der ebenfalls weder jüdischen Glaubens noch jüdischer Herkunft war. Er betrieb dort eine vom Vater ererbte Ziegelei und Kalkbrennerei. Das Paar bekam fünf Kinder, die, wie der Vater, christlich erzogen wurden. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten war die Familie zunehmenden Schikanen ausgesetzt. Lokale Parteifunktionäre forderten Karl Desch wiederholt auf, sich von seiner Frau scheiden zu lassen, was er stets von sich wies. Die für sein Unternehmen wichtigen öffentlichen Aufträge blieben danach aus. Schließlich war er gezwungen, seinen Betrieb zu verpachten und im ehemals eigenen Unternehmen als Vorarbeiter den Familienunterhalt zu verdienen. Im März 1943 verhaftete man ihn wegen „Kriegswirtschaftsverbrechen“, da er einen Hammel geschlachtet und unerlaubt Lebensmittel weiterverkauft hatte. Mitbeschuldigte an der Tat wurden mit Strafen von 20 Tagen Gefängnis oder geringen Geldstrafen belegt, Karl Desch dagegen zu einer Zuchthausstrafe von 27 Monaten verurteilt. Während seiner durch die Haft bedingten Abwesenheit wurde Johanna Desch am 10. August 1944 von der Gendarmerie Stockheim in Bleichenbach festgenommen und an die Gestapo in Gießen überstellt. Von dort kam sie in das Arbeitslager Darmstadt. Am 30. November 1944 verschleppte man sie weiter in das Konzentrationslager Ravensbrück, wo sie an einem unbekannten Datum verstarb.
In Okriftel erinnern seit Anfang vergangener Woche Stolpersteine vor dem Haus Neugasse 3 an Betty Abraham, Selma Grünebaum und Günter Simon Grünebaum. Vor dem Anwesen Neugasse 10 wurde ein Stolperstein in Gedenken an das Schicksal von Wally Löwenberg gesetzt. Drei Stolpersteine erinnern in der Alten Mainstraße an Fanni Levi, Sophie Weil und Selma David. Verlesen wurden die Biographien von Mitgliedern der AG Opfergedenken, zu der neben interessierten Bürgern auch Vertreter der Kirchen, der politischen Gremien, des Hattersheimer Geschichtsvereins, des KulturForums, des Stadtarchivs und der Stadtverwaltung gehören. Zur Zeit zählt die AG 25 Mitglieder und wird von Alt-Bürgermeister Hans Franssen geleitet. Informationen über das Projekt „Stolpersteine“ finden sichauf der Homepage der Stadt Hattersheim (www.hattersheim.de) unter dem Stichwort „Stolpersteine“. Dort finden sich auch die Biographien aller ehemaligen Hattersheimer, Okrifteler und Eddersheimer, zu deren würdigem Gedenken bis dato „Stolpersteine“ verlegt wurden.

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