Genau hinschauen lohnt sich

Kunstwerke per Post: Handfestes im Kleinformat / Mail-Art-Projekt als Auftakt zum Jubiläumsjahr

Klaus Störch (links) freute sich sehr, dass die Mail-Art-Ausstellung „Friede den Hütten! Krieg den Palästen“ von Norbert Koczorski (Mitte), kuratiert von Andreas Pitz (rechts), im Haus St. Martin am Autoberg gezeigt werden konnte.?(Foto: A. Kreusch)

 

HATTERSHEIM (ak) – Seit zehn Jahren gibt es nun „Kunst und Kultur am Autoberg“, ein Veranstaltungsprogramm, das Besuchern in der Caritas-Obdachlosenfacheinrichtung Haus St. Martin in Hattersheim die Gelegenheit gibt, sich mit kulturellen Themen und mit Kunst „hautnah“ auseinanderzusetzen, egal, ob sie wohnungslos sind oder ob sie ein Zuhause haben. „Wir möchten damit die sonst gegebene Folge 'Kein Geld, kein Zugang zu Kunst und Kultur' aufheben.

 

Wenn die von uns betreuten Menschen kein Geld für Eintrittskarten zu kulturellen Veranstaltungen haben und dort nicht hinkommen können, dann soll Kunst und Kultur eben zu ihnen kommen. Dabei sind unsere Veranstaltungen immer für jeden offen – damit wird eine Begegnung möglich, es kann hier bei uns eine Brücke zwischen kunstinteressierten Obdachlosen und Menschen ohne Unterkunftsprobleme entstehen“, erklärt Klaus Störch, Leiter des Hauses St. Martin, die Idee, die hinter diesen Veranstaltungen steht. Im Haus St. Martin wurden im angenehm kleinen, fast privaten Rahmen schon viele Fotoausstellungen gezeigt und Lesungen abgehalten. Klaus Störch hat schon Bestsellerautoren zu Lesungen in den Räumen am Autoberg begrüßen dürfen.
Das Jubiläum in diesem Jahr wird selbstverständlich mit einer ganzen Reihe von kulturellen Angeboten im Haus St. Martin gebührend gefeiert. Den Auftakt zum Jubiläumsjahr bildete eine ganz besondere Ausstellung: Im Haus am Autoberg konnte das Mail-Art-Projekt „Friede den Hütten! Krieg den Palästen“ zum 200. Geburtstag von Georg Büchner gezeigt werden. Der die Ausstellung initiierende Künstler Norbert Koczorski sowie Kurator Andreas Pitz konnten am letzten Dienstag dort als Gäste begrüßt werden.
Auch wenn es auf den ersten „Lese-Blick“ so scheint – „Mail-Art“ hat gar nichts mit digitalen Medien zu tun, ganz im Gegenteil. Die Kunstform, die als Gegenpol zur gängigen Kunstszene entstand, und die schon in den 60er Jahren viel „genutzt“ wurde, dabei immer auch subversiv war und im politischen Widerstand eine Rolle spielte, ist eine ganz „handfeste“ Sache. Auf die Einladung eines „Mail-Artisten“ per Post (etwa in Form von Briefen oder Postkarten) antworten die Künstler auf dem gleichen Wege. Bei der Einladungsadresse sammeln sich so eine ganze Menge verschiedenster Kleinkunstwerke, bei denen die Botschaft oft manchmal auch im Detail versteckt sein kann.

Ideales Medium
Norbert Koczorski erinnert sich gerne etwa an eine Postkarte, die er in der Zeit des Kalten Krieges nach Osteuropa schickte. „Da hatte ich die Briefmarke selbst gemacht – der Lenin darauf brüllte in einer Sprechblase 'Ruhe!'. Die Karte kam ganz normal gestempelt am Bestimmungsort an“, lacht er noch heute. Norbert Koczorski ist heute 61 Jahre alt. Eigentlich gelernter Buchbinder, arbeitet er seit 1985 als freischaffender Designer. Seit 1995 ist Koczorski freischaffender Künstler. Er hat selbst zwei Jahre obdachlos gelebt, zurzeit ist er ein „Hartz IV-Aufstocker“. Bis dahin hatte er „recht glücklich, arm aber frei“ gelebt; Hartz IV machte sein Leben schwieriger. Heute freut er sich darüber, dass er „Glück mit seinem Fallmanager“ hat, konnte doch mit dessen Hilfe das Mail-Art-Projekt „Friede den Hütten! Krieg den Palästen“ durchgeführt werden. Koczorskis politische Einstellung ist „links und sozial“, er ist auch Delegierter der „Nationalen Armutskonferenz“.
Andreas Pitz ist Diplom-Sozialarbeiter, er hat in Mainz 25 Jahre lang die Wohnungslosenhilfe verantwortet, nun kuratiert er seit zehn Jahren für die Evangelische Obdachlosenhilfe Ausstellungen mit sozialem Bezug. Für ihn ist die Kunst mittlerweile ein ideales Medium, Obdachlosigkeit und Armut als Themen in die Öffentlichkeit zu bringen. „Als ich anfing war ich überrascht, wie viele Künstler es gibt, die sich damit schon lange auseinandersetzen, darunter auch zum Beispiel Immendorf oder Staeck. Andere Künstler sind selbst betroffen und setzten das künstlerisch um. Unsere Ausstellung 'Kunst trotz(t) Armut' etwa hat inzwischen 40 Stationen hinter sich, mehr als 100.000 Menschen haben sie gesehen, viele haben dadurch einen ganz neuen Zugang zu den Bereichen gefunden“, berichtet er von seiner Arbeit.

Aus allen Erdteilen
Getroffen haben sich Koczorski und Pitz – beide stammen zufällig aus Pfungstadt – auf einer Ausstellung. Sie fanden sich gleich sympathisch. Koczorskis Idee zur „Büchner-Mail-Art-Ausstellung“ begeisterte Pitz sofort, schnell war man sich einig, dieses Projekt gemeinsam zu verwirklichen. Mit Pitz zusammen konnte Koczorski den Druck und Versand von 300 extra entworfenen Einladungen (der junge Büchner vor Frankfurter Wohnblocks und der Banken-Skyline) zur Teilnahme an seinem Projekt finanzieren. Je 150 Einladungen wurden an in- und ausländische Adressen versandt. „Etwa auf die Hälfte habe ich Antworten bekommen“, freut sich Koczorski über die Möglichkeit, Kunstwerke zum Thema Büchner aus allen Erdteilen – darunter Postkarten, Briefe, Fotocollagen, und künstlerisch umgestaltete Buchseiten – präsentieren zu können.
„Alles, was mit der Post zu verschicken ist, wird als Antwort akzeptiert. Natürlich muss die Sendung ordnungsgemäß mit Porto versehen sein“, erklärt Koczorski. Oft ist dabei schon der Umschlag ein Kunstwerk. Unter den vielen Antworten befindet sich auch eine vom Präsidenten der Akademie der Künste in Berlin, dem renommierten Künstler Klaus Staeck. Staeck gehört ebenfalls schon seit vielen Jahren der Mail-Artisten-Szene an, sein politisch-künstlerischer Briefwechsel mit seinem Bruder im Osten wurde einst von der Stasi akribisch bis auf die kleinste Briefmarkenzacke untersucht und dokumentiert. Staeck unterstützte das Projekt gerne, er lud sogar Koczorski und Pitz zu einem langen Gespräch in die Akademie der Künste ein.

Einige „Klopper“ dabei
Mit dem Büchner-Mail-Art-Projekt konnte im Jubiläumsjahr sogar die Nationale Armutskonferenz nach Darmstadt geholt werden. Bei der Eröffnung im Justus-Liebig-Haus sprach der Oberbürgermeister, dem Projekt wurde bundesweit Aufmerksamkeit zuteil.
„Für ein Mail-Art-Projekt gibt es zwei Regeln: Es darf nichts zensiert werden und die Einsendungen müssen dokumentiert werden“, erklärt Norbert Koczorski beim Gespräch im Haus St. Martin. Er ist sehr froh, dass Gelder des Kulturministeriums und der Sparkassen-Stiftung es ihm ermöglicht hatten, einen „richtigen“ Katalog für seine Mail-Artisten drucken zu lassen. „Manchmal kann man nur eine Teilnehmerliste machen, aber so ist es doch viel schöner, wenn die Künstler auch die Werke der anderen mal abgebildet sehen können“, meint Koczorski, und Pitz stimmt ihm da gerne zu.
Zwei oder drei Mal wird die Ausstellung nun nach zwei Jahren noch zu sehen sein, dann zieht sie endgültig ins Büchner-Haus nach Goddelau. „Dort ist sie dann öffentlich zugänglich, das war mir sehr wichtig – es sind ja schon einige 'Klopper' von bekannten Künstlern dabei“, erklärt Koczorski stolz.

Auf den zweiten Blick
Wie viel Spaß ihm selbst Mail-Art macht, kann man bemerken, wenn er seine eigene Antwort auf die Anfrage nach der Ausstellung aus dem Haus St. Martin präsentiert: Das gerahmte erbsengrüne Bild mit goldener Schrift „Hat er seine Erbsen gegessen Woyzeck?“ steckte in einem eigentlich „ganz normal“ aussehenden Karton-Umschlag. „Sehen Sie mal hier, wie schön und hingebungsvoll der Postbeamte alle Briefmarken abgestempelt hat – sogar die von mir selbst gemalten falschen Marken“, schmunzelt Norbert Koczorski dabei, „und das hätte der gar ja nicht gedurft!“ Tatsächlich, die schwungvolle Anordnung der, erst auf den zweiten Blick als „falsch“ zu identifizierenden, zusätzlichen Briefmarken wurde genauso schwungvoll von Stempellinien nachgezogen. Es lohnt sich, bei Mail-Art genau hinzuschauen!
Auch im Haus St. Martin gibt es ein Mail-Art-Projekt: Unter dem Thema „No! Home!“ hat Klaus Störch Künstler angeschrieben und um Antwort gebeten, etwa 50 Reaktionen darauf sind schon am Autoberg angekommen. Im Sommer werden sie dort ausgestellt. Aktuell sind zunächst Fotografien von Ann-Kathrin Kampmeyer im Haus St. Martin zu sehen. Seit dem 26. Februar wird dort die Ausstellung „20+6 – Obdachlosigkeit hat jedes Gesicht“ mit 26 großen Porträt-Fotos von Frauen gezeigt, von denen sechs obdachlos sind. Eine „Auflösung“ muss jeder Betrachter für sich selbst finden – wenn er das will und wenn er das kann. Die Ausstellung ist bis zum 30. April zu sehen.

 

 

 

 

 

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