Nicht der Staat, Bürger waren die Täter

Literarisches Gedenken an die Pogromnacht im Museum mit Schauspieler Martin Bringmann

Der Täter trägt Maske: Martin Bringmann personifizierte mit weißer Maske das Tätergesicht, das sich vielfältig anmalen und formen ließe.
(gus/Foto: Steinacker)

 

BISCHOFSHEIM (gus) – Natürlich, mit großen zeitlichen Abstand, aus heutiger Zeit kann man das Verhalten der Vorfahren leicht kritisierten, sei ihr bewusst, betonte Sabine Bächle-Scholz. Dennoch hält die Vorsitzende der Bischofsheimer Gemeindevertretung es für angebracht und wichtig festzuhalten, warum das Geschehen in Deutschland rund um den 9. November 1938 geschehen konnte – und das, was durch jene Reichspogromnacht erst seinen Anfang nahm und in der Massenvernichtung von Juden und anderen Minderheiten und Ausgegrenzten mündete. „Die Anzahl der Menschen, die dagegen aufbegehrten, blieb sehr überschaubar“, betonte Bächle-Scholz, was aus heutiger Sicht schwer zu verdauen ist an dieser dunkelsten Episode der deutschen Geschichte.

Die Konsequenz daraus, um aufzuhalten, was sich wiederholen könnte, liegt nahe: Die Bürger seien ethisch verpflichtet, nicht nur nicht mitzumachen, wenn sich solche Entwicklungen andeuten, sondern „das Notwendige zu tun“, um neuerliche Verbrechen zu verhindern.

Sichtlich bewegt schloss Bächle-Scholz mit ihren Worten die Gedenkveranstaltung der Gemeinde zur 78. Wiederkehr der Reichspogromnacht im Heimatmuseum ab. Die hatte der Bischofsheimer Schauspieler Martin Bringmann durch sein Soloprogramm „Zu Schwarzerlen erkoren, duftlos“ gestaltet, ein szenisch-literarisches Stück über, so der Untertitel „Verfolgung, Vernichtung, Ausgrenzung“.

Bringmann, 1970 in Marburg geboren, zog Anfang der Neunzigerjahre nach seiner Hochzeit mit einer Bischofsheimerin in die Gemeinde, ist nach Stationen unter anderem in Bochum und Mainz nun seit vielen Jahren hauptsächlich am Landestheater Tübingen beschäftigt. Mit dem Thema der systematischen Jugendverfolgung hat er sich anhand der Vorkommnisse seiner Wahl-Heimatgemeinde befasst, die über die Dokumente im Landesarchiv sehr gut nachzuvollziehen ist.

Seine Retrospektive beginnt Bringmann mit einem „Video-Prolog“, der in unzähligen Bildschnipseln den Weg nachvollzieht, den die Bischofsheimer Juden bei ihrer Deportation im Jahr 1942 nahmen: vom sogenannten „Judenhaus“ in der Frankfurter Straße 48 zur Sammelstelle in Darmstadt am heutigen Justus-Liebig-Gymnasium und weiter zu einem Nebengleis am Hauptbahnhof, von wo aus das jüdische Leben in Bischofsheim, wie das aller anderen Kommunen im Großraum, durch die Deportation in die Konzentrationslager ausgelöscht wurde.

Nur noch 22 Juden lebten zu Beginn der Naziherrschaft in Bischofsheim, es waren in den Hochzeiten um die Jahrhundertwende einmal 68 gewesen. Dennoch war jeder einzelne von ihnen zu viel aus Sicht der Nationalsozialisten. Und nicht einmal, wenn es sich um Bürger handelte, die eigentlich ein gewisses Ansehen in der Gemeinde hatten, schützte sie dies vor der Deportation. Wie der am Ende des Videos zitierte Weltkriegsveteran Hugo Kahn, Kaufmann und Träger des Eisernen Kreuzes. Für das Deutsche Reich war er einst auf das Schlachtfeld gezogen und hatte dort sein rechtes Bein gelassen. Als der 65-Jährige 1942 mit seiner gesamten Familie abtransportiert wurde, war das alles nicht genug, als dass die Bischofsheimer sich für ihn eingesetzt hätten. Kahn starb im Konzentrationslager Theresienstadt am 3. Februar 1944 im Alter von 66 Jahren.

Bringmann stand während der Videovorführung in Tarnuniform und weißer Maske regungslos am Laptop. Diese Tarnung bot die Möglichkeit, eine Art Blankobild des gewöhnlichen Täters jener Zeit zu entwerfen. Der hat kein Gesicht, weil es letztlich die Kontur sehr vieler, zu vieler Menschen abbilden müsste.

Er las aus dem Werk „Die Wohlgesinnten“ von Jonathan Littell aus dem Jahr 2006. Dort wird auf mehr als 1300 Seien die fiktive Autobiografie eines Obersturmbannführers dargelegt, dessen Schilderungen eine Art Gesamtschau des nationalsozialistischen Staates, seiner Untaten und ihrer Protagonisten zeichnet. „Gern stellen wir dem Staat (…) den gewöhnlichen Menschen gegenüber. Dabei vergessen wir, dass der Staat aus Menschen besteht, mehr oder weniger gewöhnlichen Menschen“, heißt es in dem Werk. „Die wirkliche Gefahr für den Menschen bin ich – seid Ihr!“, betont der fiktive Erzähler.

Dass die Nazis keine außerirdischen Eindringlinge waren, die sich des Landes bemächtigten, sondern sich aus der Mitte der Gesellschaft rekrutierten, wollten nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland nur wenige wahrhaben. Und die Täter fanden ihre Helfer in allen Ebenen der Gesellschaft, die sie hervorgebracht hatte.

Ohne die tiefe Verwurzlung des Antisemitismus in Deutschland wären die Exzesse des Nationalsozialismus nicht so einfach zu erklären. Die jahrhundertealte Geschichte der Verleumdung und Verfolgung der Juden greift Heinrich Heine in seinem Werk „Der Rabbi von Bacharach“ auf, die im Spätmittelalter spielt und die Flucht eines Rabbis schildert, dem ein Ritualmord an einem Kleinkind untergeschoben werden soll.

Aber Bringmann hat auch eigene Aufzeichnungen, in denen er die Erlebnisse, die seine jüdische Großmutter der Familie etwa aus ihrer Schulzeit berichtete, niedergeschrieben hatte. Auf der Wuppertaler Bühne hat Bringmann selbst im Stück „Die Ermittlung“ von Peter Weiß (1965) gespielt, ein in elf „Gesangsstücke“ unterteiltes Werk, dessen elfter und letzter Teil „Gesang von den Feuer-öfen“ die Auslöschung der jüdischen Leben in den Konzentrationslagern schildert. Das Werk geht zurück auf den Frankfurter Auschwitz-Prozess und die Aussagen der Angeklagten.

So souverän und eindringlich Bringmann die Literatur vorträgt, so erschöpfend ist dieses Einmannstück für ihn – und das mehr noch psychisch als körperlich. Minutenlang musste er sich von der Aufführung im Vorraum erholen, während Bächle-Scholz ihre Rede hielt. Bischofsheim hat einen Bürger in seine Reihen, der – auch, wenn er zugezogen ist und beruflich in einer anderen Region arbeitet – mit seinem Stück „Zu Schwarzerlen erkoren, duftlos“ eine Verknüpfung zwischen der allgemeinen Geschichte Deutschlands und den lokalen Ereignissen gezogen hat.

Genau das macht ein Gedenken aus, das sich vom pflichtbewussten, staatsmännischen und letztlich emotionsfreien Begehen von Jahrestagen abhebt und sich dem unsäglichen Geschehen der Nazizeit dort nähert, wo es stattgefunden hat: in den Kommunen, in der Frankfurter Straße in Bischofsheim, vor der dortigen Synagoge und am Marienplatz, wo im Jahr 1942 Bischofsheimer Bürger zusammengetrieben wurden, deren einziges Vergehen es war, dem jüdischen Glauben anzuhängen.

Und ja, es ist einfach, 74 Jahre später, 78 Jahre nach der Reichspogromnacht, darüber entsetzt zu sein, dass die Bischofsheimer untätig zugeschaut oder sogar mitgemacht haben. Aber es geht bei dem bundesweiten Gedenken an die Pogromnacht nicht darum, einzelne Bürger zu verurteilen, sondern das Geschehene vor Augen zu führen. Denn wer wollte abstreiten, dass es auch heute genügend Menschen gäbe, die dem ganzen Irrsinn ein weiteres Mal indifferent gegenüberständen, wenn totalitäre Kräfte die Demokratie mit ihren unveräußerlichen Menschenrechten beiseite räumten?

 

Weitere Artikelbilder:

Durchschnitt: 5 (1 Bewertung)


X