Ein Tag wie kein anderer

„Zu Gottes Ehr in Stadt und in Land“ – Glockenweihe vor der Kirche St. Gallus – 4,4 Tonnen schwere „Gloriosa“ ist an ihrem Platz

Zahlreiche Flörsheimer strömten auf die Hauptstraße, um die Weihe und das Aufhängen der neuen Glocken aus unmittelbarer Nähe zu bezeugen.
(Fotos: R. Dörhöfer)

FLÖRSHEIM (drh) – „Der Nachwuchs ist da. Zwillinge! Ein kleines und ein großes G“, so die Worte von Pfarrer Sascha Jung bei der Ankunft der neuen Glocken am Mittwochmittag, 29. Juni. Tatsächlich lag Spannung und Nervosität in der Luft. „Wenn de Parre soi Kinner kriehd“, kommentierte jemand aus der Menge die besondere Atmosphäre. Endlich hieß es: „Sie kommen!“ Mit großen Schritten gingen Pfarrer Jung und die Messdiener dem Tieflader, der die Glocken zum Gallusplatz brachte, entgegen. In einer Prozession wurden die Glocken unter dem Duft von Weihrauch auf den letzten Metern zum Zielort begleitet.

Neugierig wurde über die noch geschlossenen Laderampen geäugt; das 70 Zentimeter kleine Glöckchen stand, fast unscheinbar, in der Ecke, im Schatten des „großen G“. Hinter der „Gloriosa“ das mächtige Joch, das, wie der mächtige Klöppel und die Sandsteinfassungen, zuerst mit dem Kran zur Glockenstube verbracht wurde. Für 14 Uhr war die Weihe der Glocke mit Prälat Helmut Wanka, gebürtig aus der Glockengießerstadt Sinn, terminiert. Bis dahin hing das „kleine G“ an einem geschmückten Metallbock, während die „Gloriosa“ am Kran verblieb.

Immer mehr Flörsheimer strömten herbei. Es wurden Selfies mit der Glocke im Hintergrund geknipst und die Kindergartenkinder von St. Michael sangen der Glocke gar ein kleines Ständchen. Die Menge applaudierte, als die große Glocke durch den Kran die ersten Zentimeter in die Höhe gehoben wurde. Ältere Menschen erinnerten sich an das Jahr 1966: „Wir glaubten, dass wir so etwas nie wieder erleben dürfen. Schön, dass wir das noch einmal sehen.“ Vor 50 Jahren war die Glocke c2 aus einer alten Glocke (Gussjahr 1906) gegossen worden – und auch die Jubiläumsglocke zum 300. Verlobten Tag (Schlagton b0) hatte ihren Platz im Turm gefunden. Die Weihehandlung wurde damals von Domkapellmeister Hans Pabst vollzogen, es assistierten der damalige Pfarrer Felix Gelhard und Kaplan Dieter Klug. Aufgehängt wurden die, ebenfalls in Sinn gegossenen, Glocken vom Flörsheimer Turmuhrenbauer Höckel-Schneider.

„Alle Glocken des Geläutes von St. Gallus wurden in unserer Werkstatt geschaffen. Die ersten vier Glocken (c1–es1–g1–b1) bereits 1948. Nach dem Krieg hatte unser Familienbetrieb unglaublich viel zu tun. Alle Gemeinden wollten schnellstmöglich ihr Geläut ersetzen“, erzählte der heutige Inhaber Hanns Martin Rincker, der die Sinner Glockengießerei in der 13. Generation führt und das Unternehmen gerne an seinen Neffen weitergeben möchte. Er und sein Neffe Christian begleiteten auch das jüngste große Glockenwerk auf seinem letzten Weg. „Wenn so eine Glocke, wie wir sie in den letzten 40 Jahren nicht mehr gegossen haben, das Haus verlässt, dann empfindet man schon etwas Traurigkeit“, so der Glockengießer. Flörsheim habe das Glück, dass alle Glocken mit echten Zuschlagsstoffen gegossen worden seien, denn gerade nach dem Krieg sei es oft unmöglich gewesen, Zinn zu bekommen, so dass damals viele Glocken mit minderwertigeren Ersatzstoffen gefertigt worden seien. Vom Glockengießen alleine könne das Familienunternehmen heute nicht mehr leben, wenngleich das Jahr 2016 ein gutes Auftragsjahr sei. 2015 habe das Unternehmen aber beispielsweise nur kleinere Glocken für den Export nach China und Korea oder auch eine Glocke für den Hamburger Michel gegossen. Das Unternehmen lebe vor allem von Wartungen und Reparaturen in Kirchtürmen. „Allein der Materialwert dieser Glocken liegt bei 50.000 Euro“, erklärte der Fachmann.

„Von Hamburg bis München“
Auch für die Flörsheimer Turmuhrenbaufirma Höckel-Schneider schreibt dieser Auftrag Familiengeschichte. Vater Edgar Schneider hing 1966 die Glocke zum Verlobten Tag in den Turm und legte mit seiner Aussage, dass nun nur noch die untere Glockenstube frei sei, bei Willi Lauck den Grundstein für die Idee einer Glockenspende. 50 Jahre später brachte Willi Lauck schließlich mit Hilfe weiterer Spender die Summe zur Anschaffung der „Gloriosa“ zum 350. Jubiläum des Verlobten Tages auf. „Es ist ein Auftrag, an dem ganz viel Herzblut hängt. Wir komplettieren den Turm unserer Heimatstadt, den unser Vater schon bestückt hat. Und es ist die größte Glocke, die wir bislang hängen durften“, so Michael Schneider. Mit ihm vollendeten Bruder Marcus und Schwester Angelika das Werk. Gemeinsam führen sie heute das Familienunternehmen Höckel-Schneider.

1966 titelte die Flörsheimer Zeitung, dass das neue Geläut „vom Taunus bis zum Odenwald“ zu hören sei. 2016 setzte Pfarrer Jung eines drauf: „Künftig hört man unsere Glocken von Hamburg bis München!“ Das neue Geläut von St. Gallus schlägt in den Tönen g0–b0–c1–es1–g1–b1–c2–g2 und bringt zusammen 11.000 Kilogramm auf die Waage. „Gloriosa“ wiegt allein schon 4.400 Kilogramm. „Glocken reißen den Himmel auf“ – so erklärte der Limburger Domkapitular Prälat Helmut Wanka in seiner Predigt die Bedeutung von Glocken für die Kirche. Die Glocken riefen wie in einer Art Ouvertüre zur Botschaft Jesu. Wenn sonntags die Glocken läuteten, sei der Christ aufgefordert, dem Ruf zur Eucharistiefeier zu folgen. Glocken trügen die Botschaft des Himmels ins Land, und so seien sie auch keineswegs nur einfach eine weitere „Lärmquelle“ zwischen Flug- und Verkehrslärm. Glocken läuteten zu frohen wie dunklen Anlässen den Lebens und verkündeten stets: „Du bist eingeladen!“ Mit der Weihe der Glocken würden sie von ihren rein profanen Funktionen als Warnsignalgeber für den liturgischen Gebrauch im Kult und Gottesdienst geheiligt. So wurden auch die beiden weltlich geschaffenen Werke durch die Weihehandlungen in den liturgischen Stand erhoben.

Zweitgrößte Glocke im Bistum
Zunächst besprengte Prälat Wanka beide Glocken mit Weihwasser, um sie im Anschluss in Weihrauch zu hüllen. Allein in Deutschland ist es sodann Brauch, die Glocken noch mit Chrisam, dem Öl der Taufe und Firmung, an vier Stellen zu salben. Auch Altäre werden bei ihrer Weihe gesalbt. Im Sinne der Dreifaltigkeit wurde dann jede Glocke dreimal angeschlagen. Das klappte bei „Gloriosa“ nicht auf Anhieb, war der parat gelegte Klotz zum Anschlagen doch schlichtweg zu schwer und unhandlich für den Domkapitular, der mit dem kleinen Holzhammer von Pfarrer Jung, der zunächst die kleine Glocke angeschlagen hatte, einen zweiten Versuch wagte.

odann hörten die Flörsheimer doch noch ganz deutlich die ersten Töne von „Gloriosa“ und das Loblied auf Gottes Huld und Treue (Te Deum) wurde angestimmt. Die Glocke trägt die Inschrift: „Als Gloriosa im ehernen Gewand / läut‘ ich zu Gottes Ehr in Stadt und in Land / Verlobter Tag / AD 2016“. Sie ist die zweitgrößte Glocke des Bistums Limburg und wird am Tag des Pestgelöbnis am 28. Juli gemeinsam mit der kleinen Dachreiterglocke erstmalig geläutet.

Obwohl Bürgermeister Michael Antenbrink die Sperrung der Hauptstraße direkt nach dem Weihegottesdienst aufheben ließ, wichen die Menschen nicht von der Stelle. Jeder wollte den Moment, als „Gloriosa“ ihrem Platz im Turm entgegenschwebte, in unmittelbarer Nähe erleben.

Alle Mitarbeiter des Unternehmens Höckel-Schneider hatten sich auf dem Gerüst und im Turm versammelt, um Zug um Zug die im Turm befestigten Kettenzüge an den Halteschlingen der Glocke einzuhängen und sie so vom Kran in den Turm zu übernehmen. Insgesamt wurden drei Kettenzüge benötigt. „Hier haben wir aufgrund der Glockengröße unseren Materialfundus verstärken müssen“, erklärte Michael Schneider. Meist seien die Glocken, die sie auf- oder abhängen, nur halb so schwer. Die Arbeitsschritte an sich seien bei einer großen Glocke aber die gleichen wie bei einer kleineren, und so wurde auch das „kleine G“ später mit dem Kran bis zum Dachreiter in der Mitte des Kirchenschiffes emporgehoben, um auch wieder mit Kettenzügen den Wechsel vom Kran zum Glockenstuhl zu vollziehen. Die kleine Glocke, 114 Kilogramm schwer, trägt die Inschrift: „Im Kreuz ist Heil / AD 2016“. Sie wird vornehmlich zum Wettersegen und zur Verehrung des Kreuzes Christi läuten.

„Wunderbar gelungenes Werk“
„Ob sich die Glocken harmonisch ins Geläut fügen, werden wir erst im Gesamtgeläut hören. Gute Musiker und Glockenfachleute werden hören, ob die berechneten Töne dann wirklich klanglich zueinander passen“, erklärte Hanns Martin Rincker, der die „Gloriosa“ als „wunderbar gelungenes Werk“ bezeichnete. Im eigens angefertigten hölzernen Glockenstuhl setzt „Gloriosa“ Schwingkräfte in dreifacher Höhe ihres Eigengewichtes in Gang. Der Glockenstuhl wurde von der Flörsheimer Firma Richter aufgeschlagen. Das Team von Höckel-Schneider war gut eine Woche mit den Einrichtarbeiten der beiden Glocken beschäftigt. Solange noch kein Motor angeschlossen war, durfte Michael Schneider die „Gloriosa“ immer wieder händig anschieben und abbremsen. Doch nur so konnten die Fachleute das exakte Schwingen des 4,4 Tonnen schweren Kolosses sicherstellen.

Das seltene Ereignis der Glockenweihe ließen die Flörsheimer im Anschluss mit einem Gläschen Wein sowie mit Kaffee und Kuchen auf dem Gallusplatz ausklingen.

 

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