Basis einer europäischen Orientierung

70 Jahre Charta der Vertriebenen: Gedenkveranstaltung des BdV-Kreisverbandes auf dem alten Friedhof

Wie so viele Vereine und Verbände, mussten auch der Kreisverband und der Flörsheimer Stadtverband des Bundes der Vertriebenen (BdV) in diesem Jahr ihr Programm radikal zusammenstreichen, inklusive des „Tages der Heimat“ und der Mitgliederversammlung. „Der Kreisverband ist weiterhin arbeitsfähig“, betont Kreisvorsitzender Wenzel Woller, dass dies der Pandemie und nicht der Situation im Verband zuzuschreiben sei. Eine Veranstaltung wollte der BdV sich aber doch nicht nehmen lassen. In abgespeckter Form gedachten Mitglieder vergangene Woche auf dem Alten Flörsheimer Friedhof dem 70. Jahrestag der Veröffentlichung der „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ am 5. August 1950.

Die Charta wurde gut ein Jahr später, im November 1951, zur unverändert übernommenen inhaltlichen Orientierung bei der Gründung des Bundes der Vertriebenen, der die Bildung von Unterverbänden wie auch dem Kreisverband des BdV im Main-Taunus folgte. Diesen Wertekatalog zur Grundlage genommen zu haben, macht die heutigen Verantwortlichen im BdV ein bisschen stolz, war bei der Gedenkveranstaltung am Ehrenhain für die Kriegsopfer der beiden Weltkriege auf dem Alten Friedhof zu spüren.

Denn in jener Zeit, in der das Nachkriegsdeutschland stark mit dem Wiederaufbau beschäftigt war und vom Krieg niemand mehr etwas hören wollte, interessierten die Öffentlichkeit die Schicksale der vornehmlich aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten vertriebenen Menschen in der neuen Bundesrepublik kaum jemanden. Sie stellten die Kommunen, in denen sie eine neue Heimat finden sollten, vielmehr vor einige Probleme und waren daher nicht von allen Einheimischen gerne gesehen. Auch, dass von den rund zwölf Millionen Vertriebenen geschätzte zwei Millionen auf dem Weg in das verbliebene Deutschland den Tod fanden, kümmerte seinerzeit die Öffentlichkeit wenig.

Und dennoch darf man der Charta zwei auch heute noch positiv zu betrachtende Grundpositionen zuerkennen: zum einem den – mit dem Verweis auf die Zugehörigkeit zum christlich-abendländischen Kulturkreis – „Verzicht auf Rache und Vergeltung“, den die Unterzeichner der Charta als Entschluss bezeichnen, der ihnen „ernst und heilig“ sei. Zum anderen – das ist sicherlich ein erstaunlicher Teil des Werkes – wird die Charta als „feierliche Erklärung“ bezeichnet, die den Vertriebenen ein Grundgesetz und Voraussetzung „für die Herbeiführung eines freien und geeinten Europas“.

„Diese weitblickende europäische Ausrichtung der Charta ist sehr interessant“, betonte BdV-Vorstandsmitglied Günther Chwalek, der den Gedenkvortrag hielt. Den Jüngeren und weniger Geschichtsbewussten müsse man immer wieder in Erinnerung rufen, dass über zwölf Millionen Menschen durch die Vertreibung ihre angestammte Heimat verloren und in ihren neuen Wohnorten integriert werden mussten – „ein einmaliger Vorgang in der Geschichte“, betonte Chwalek. Die Entrechtung und Vertreibung sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewesen, das von keinem Völkerrecht gedeckt gewesen sei.

Dennoch sei die Charta 1950, „als Deutschland materiell und moralisch noch an den Folgen des Krieges litt“ auf eine Versöhnung ausgerichtet gewesen. „Da wurde 1950 eine Hand ausgestreckt, aber wie lange dauerte es, bis Vaclav Havel diese Hand ergriff und sich als erster für die Vertreibung entschuldigte“, sagte Bürgermeister Bernd Blisch. Zur Erläuterung: Der tschechische Ministerpräsident hatte sich 1990 erstmals bedauernd über die Vertreibung von rund drei Millionen Sudetendeutschen geäußert und den Vorschlag gemacht, den Vertriebenen, die seinerzeit durch die Beneš-Dekrete entrechtet wurden, die doppelte Staatsbürgerschaft anzubieten. Er war damit aber weder in seinem Land noch in Deutschland auf große Resonanz gestoßen. Erst bei seinem Abschiedsbeuch im Januar 2003 in Berlin stieß Havels öffentliche Kritik ab den Vertreibungen auf ein großes Echo.

In ihren Zielsetzungen sei die Charta weiter aktuell, ihre Umsetzung sei allerdings unvollständig geblieben, betonte Blisch. Es sei vom Erhalt des Wohlstands abhängig, ob es gelinge, die nationalistischen Bestrebungen unserer Zeit zu unterbinden.

Die Veranstaltung wiederholte sich einige Stunden später in etwa größerem Rahmen an der Gedenkstätte auf dem alten Friedhof in Hochheim. Hier sprachen das hessische BdV-Landesvorstandsmitglieds Hagen Novotny und der Kreistagsvorsitzende Wolfgang Männer Grußworte.

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