Gemeinsam Gottes Auftrag erfüllen

„Ihr sollt mir als ein heiliges Volk gehören“: Verlobter Tag im Zeichen des jüdisch-christlichen Dialogs

Ungewohntes Bild hinter Kaplan Robert Ginter, Zelebrant am vierten Altar – dem langen, heißen und vor allem trockenen Sommer geschuldet, gab es in diesem Jahr nicht genügend Blütenblätter, um einen Blumenteppich zu streuen. Also musste man sich mit Holzschnitzeln behelfen.
(Fotos: A. Noé)

FLÖRSHEIM (noe) – Vor 352 Jahren gelobten die Flörsheimer Christen: „Im Jahre 1666, am 28. Juli, ist von der Gemeinde dieses Ortes ein Verlobter Tag wegen der sich verschlimmernden Pest versprochen worden zu Ehren der Heiligen Sebastian und Rochus, auf dass dieser Tag immer und in jedem Jahr der Zeitläufe wie ein heiliger Feiertag gefeiert werde und eine Prozession wie am Fronleichnamsfest soll mit brennenden Kerzen stattfinden, was die Gemeinde nach den Regeln der Kirche jährlich begehen wird.“ Flörsheim hielt abermals Wort. Am Montag zogen Hunderte Gläubige im Rahmen des in der Kirche St. Gallus gefeierten Festgottesdienstes durch die Straßen der Flörsheimer Altstadt. 

Jede Eucharistiefeier anlässlich des Verlobten Tages unterscheidet sich allein aufgrund der zahlreichen Zelebranten von anderen Festgottesdiensten, die im Laufe des Jahres in der altehrwürdigen Galluskirche gefeiert werden. Zum 352. Verlobten Tag wirkten neben dem Hauptzelebranten Pfarrer Sascha Jung und den Diakonen Günter Seemann und Johann Laux (Liturgische Assistenz) als Konzelebranten Heinz Heckwolf (Domdekan zu Mainz), Helmut Wanka (Domkapitular em. zu Limburg), die Pfarrer Rolf Kaifer, Markus Schmidt, Christian Preis, Balthasar Blumers, Thomas Hoffäller, Ralf Hufsky, Gins Xavier, Dominik Tran Manh Nam, George Ottalankal sowie die Kaplane Robert Ginter und Nikolaus von Magnis mit. Sie wurden unterstützt von den Gemeindereferentinnen und dem Gemeindereferenten des Pastoralteams St. Gallus, namentlich waren dies Kornelia Schattner, Monika Dittmann und Michael Frost. Die evangelischen Kirchengemeinden wurden vertreten von den Flörsheimer Pfarrern Martin Hanauer und Karl Endemann und der Weilbacher Pfarrerin Ivonne Heinrich. Außerdem nahmen Mitglieder des Kirchenvorstands der evangelischen Kirchengemeinde Flörsheim teil. Einen Ehrenplatz im Kreise der Zelebranten nahm der Beauftragte für interreligiösen Dialog des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in Hessen, Rabbiner Jehoschua Ahrens aus Darmstadt, ein.

Bemerkenswert ist auch der große Zuspruch, den der Verlobte Tag, der Flörsheimer Feiertag schlechthin, erfährt. Der 27. August 2018 bildete da keine Ausnahme. Ganz im Sinne also des Pfarrers Laurentius Münch, der, was historisch verbrieft ist, im Pestjahr 1666 an der Seite seiner Flörsheimer blieb, um ihnen, den Verzweifelten, durch seine beispielhafte Glaubenskraft wieder Mut und Hoffnung zu geben. In dieser finsteren, todbringenden Zeit lebten, litten und starben auch Juden in Flörsheim. Bis in die 1930er Jahre nahmen die jüdischen Flörsheimer daher an der Feier des Verlobten Tags teil, indem sie mit einer Station auf dem Prozessionsweg an die jüdischen Opfer der Pest erinnerten. Vor 300 Jahren feierten die Flörsheimer Juden die Einweihung ihrer Synagoge, 220 Jahre später wurde das Gotteshaus in der Pogromnacht von den Nationalsozialisten zerstört. Anlässlich dessen wurde an diesem, nämlich dem 352. Verlobten Tag der Verständigung, dem Dialog zwischen Christen und Juden besondere Aufmerksamkeit zuteil.

Rabbiner und Pfarrer im Gespräch
Nach der dreimal gesungenen Hymne „Solang hier stehet Stein auf Stein“ – die Gemeinde wurde im Festgottesdienst von der Sopranistin Marina Hermann, dem Bezirkskantor Manuel Braun (Orgel) und der Flörsheimer Kantorei unter der musikalischen Leitung des Diözesankirchenmusikdirektors Andreas Großmann unterstützt – begrüßte Pfarrer Sascha Jung unter den zahlreichen Gottesdienstbesuchern namentlich die Landräte Michael Cyriax (Main-Taunus-Kreis) und Ulrich Krebs (Hochtaunuskreis) sowie Flörsheims Stadtverordnetenvorsteher Steffen Bonk, Bürgermeister Michael Antenbrink und Ersten Stadtrat Sven Heß. Auch die weiteren Vertreter des politischen und gesellschaftlichen Lebens in Flörsheim sowie die „Kolleginnen und Kollegen im Dienst der beiden Kirchen“ wurden nicht vergessen. Unter dem Applaus der Gemeinde hieß Pfarrer Jung schließlich den Rabbiner Jehoschua Ahrens willkommen.
Es folgte eine thematische Einführung in den diesjährigen Verlobten Tag, der unter dem Motto „Ihr sollt mir als ein heiliges Volk gehören“ (Ex 19,6) stand. Pfarrer Jung erkannte in diesen Worten die gemeinsame Berufung von Juden und Christen, Gottes Auftrag zu erfüllen. Die „Trennung von Kirche und Synagoge“ habe jedoch zu „viel Unheil und unheiligen Taten“ geführt, die Kirche habe hierbei Schuld auf sich geladen. Jung stellte in diesem Zusammenhang fest: „Auch auf die Frage, was wir als Kirche alles hätten tun können, um die Shoah zu verhindern oder zu beenden, gibt es noch keine zufriedenstellende Antwort.“

Der Pfarrer erinnerte an das einst sehr gute Verhältnis zwischen Christen und Juden in Flörsheim und zitierte hierzu Josef Altmaier, den Vater des Flörsheimer Ehrenbürgers Jakob Altmaier. Der Synagogenvorsteher der jüdischen Gemeinde hatte im Jahre 1912 anlässlich der Verabschiedung des damaligen Pfarrers von St. Gallus, Johannes Baptist Spring, im Rückgriff auf den biblischen Bericht über den Jakobsbrunnen gesagt: „So lange ich mich zurückerinnern kann, haben wir hier in Flörsheim, Christen und Juden, gemeinsam in Leid und Freud, in Glück und Unglück den symbolischen Schicksalsstein vom Brunnen gewälzt. Und weil unsere Konfessionen nicht in Hass entzweit waren, sondern hilfreich zusammen den schweren Stein fortwälzten, deshalb konnten wir auch gemeinsam zu aller Segen das labende Wasser schöpfen, das aus unserem gemeinsamen Brunnen fließt.“ An Rabbiner Jehoschua Ahrens gerichtet betonte Flörsheims Pfarrer: „Ich bin unendlich dankbar dafür, dass es uns durch Ihre geschätzte Anwesenheit möglich ist, an diesem Band der Freundschaft und der Verbundenheit anknüpfen zu können.“

Ein Glaubensgespräch zwischen Pfarrer und Rabbiner ersetzte die Predigt. „Das Kreuz steht für Sie für etwas Positives“, eröffnete der Gast aus Darmstadt. „Für uns Juden war es lange gleichbedeutend mit Schmerz und Leid.“ Jedoch sei nun, ermöglicht durch eine „Umkehr in der katholischen Lehre“, ein neues Kapitel aufgeschlagen worden. Nun könnten auch die Juden auf die Kirche zugehen, der Weg sei frei für einen „echten Dialog auf Augenhöhe“. Christen und Juden seien sich zwar so nah wie nie zuvor, meinte Ahrens, jedoch erweise sich die zunehmende Säkularisierung und der zugleich stärker werdende Fundamentalismus auf allen Seiten als Problem. „Ein Dialog muss aus der Tradition heraus entwickelt werden“, sagte der Rabbiner, „es muss darum gerungen werden, wie ich den anderen aus meiner Tradition heraus anerkennen kann. Benedikt XVI., ein brillanter Theologe, verlangte genau das.“ 

Pfarrer Jung sprach sodann den, wie er sagte, „heikelsten Punkt“ an: mit Jesus sei aus Sicht der Christen der Alte Bund, ohne aufgekündigt worden zu sein, vollendet worden – wie aber halten es die Juden mit Jesus? „Jesus kommt in unserer Tradition nicht vor“, entgegnete Rabbiner Ahrens. „Er ist weder positiv noch negativ besetzt. Aber er geht nicht spurlos an uns vorbei: Jesus war schließlich Jude.“ Es gebe daher einen jüdischen Blick auf Jesus mit dem Hauptaugenmerk darauf, was er gelehrt hat. Es gebe, so der Rabbiner, mehr Gemeinsames als Trennendes. Exemplarisch nannte Ahrens die Nächstenliebe, den hohen Stellenwert der Familie und das Streben nach Frieden.

Umso erschütternder sei, dass vielerorts „Jude“ wieder zu einem Schimpfwort werde, so Jung; antisemitische Parolen würden in der Öffentlichkeit hoffähig gemacht. „Der Antisemitismus geht weiter“, bestätigte Ahrens, „er hat sich aber gewandelt.“ Heutzutage verberge sich, vor allem auf politischer und medialer Ebene, der Judenhass hinter dem Begriff „Israelkritik“. Der „Mord an Jesus“ stehe nicht mehr im Mittelpunkt, das habe die Kirche „repariert“. „Religiöse Christen machen mir keine Sorgen“, erklärte der Rabbiner. Jedoch habe die Kirche an Einfluss verloren. Bildung und vor allem Begegnung könnten Antisemitismus entgegenwirken.

„Ein Christ kann kein Antisemit sein“, machte Pfarrer Jung deutlich und versprach unter dem Applaus der Gemeinde: „Ich werde alles tun, um jede Form des Antisemitismus und jegliche Feindseligkeit gegenüber Juden zu verhindern!“ Es müsse darum gehen, „freundschaftliche Bande zwischen der Kirche und dem Judentum“ herzustellen.

Stationen der Gelöbnisprozession
Der Eucharistiefeier folgte, wie es das Gelöbnis von 1666 gebietet, eine Prozession durch die beflaggten Straßen von Flörsheim. Unter grauem Himmel aber trockenen Fußes ging es die Hauptstraße entlang. Bevor die erste Station, nämlich der Altar an der Christkönigskapelle in der Obermainstraße, erreicht wurde, hielt die Prozession in Höhe der Synagogengasse. Dort, wo einst das Gotteshaus der Flörsheimer Juden stand, sprach Rabbiner Jehoschua Ahrens ein Gebet. Über die Grabenstraße und die Hochheimer Straße erreichte der Zug den zweiten Altar am Pestkreuz an der Ecke Hauptstraße/Untermainstraße. Dritte Station war der Altar in der Untermainstraße; die Prozession setzte ihren Weg über die Pfarrer-Münch-Straße zum vierten Altar am Mainufer fort, der von Flörsheimer Ministranten unter dem Motto „Suche Frieden und jage ihm nach“ gestaltet worden war. Der Weg führte schließlich durch die Karthäusergasse und durch die Hauptstraße zurück in die Kirche St. Gallus. Unter Glockengeläut wurde das Allerheiligste zum Hochaltar geleitet. Der Festgottesdienst zum 352. Verlobten Tag fand mit dem „Te Deum“ und dem sakramentalen Segen seinen Abschluss.

 

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