„Die Sache mit der Einheit“

Bürgerempfang in Flörsheims Stadthalle – Deniz Yücel sprach am Jahrestag der Wiedervereinigung

Der aus Flörsheim stammende und dort aufgewachsene Journalist Deniz Yücel dankte für die Unterstützung, die ihn in türkischer Haft aus seiner Heimatstadt erreichte. Im Hintergrund: der gemischte Chor „La Musica“ der Sängervereinigung Weilbach e. V., der für den vielfältigen und hervorragend vorgetragenen musikalischen Rahmen sorgte.
(Fotos: Pressestelle Stadt Flörsheim am Main)

FLÖRSHEIM (noe) – Mit circa 500 Gästen war der Bürgerempfang in der Stadthalle, im Vergleich zu den Veranstaltungen in den Vorjahren, ausgesprochen gut besucht. Das lag wohl in erster Linie an dem „Zugpferd“ der diesjährigen Auflage – der aus Flörsheim stammende und dort aufgewachsene Deniz Yücel hielt die Festrede.

Zu etwas Besonderem wurde der Bürgerempfang aber auch durch die Präsenz der Delegation der französischen Partnerstadt Pérols, die von Bürgermeister Michael Antenbrink herzlich willkommen geheißen wurde. Anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Partnerschaft nahmen Pérols Bürgermeister Jean-Pierre Rico – es war sein erster Besuch in Flörsheim – und weitere Abgesandte der französischen Stadt an der Veranstaltung am 3. Oktober teil. In seinem kurzen Grußwort zitierte Jean-Pierre Rico den französischen Philosophen Voltaire: „Ich verachte Ihre Meinung, aber ich gäbe mein Leben dafür, dass Sie sie sagen dürfen.“ Welch bedeutsamer und gerade zu diesem Bürgerempfang passender Satz.

Bürgermeister Antenbrink lobte in seiner Rede den Mut und die Entschlossenheit der Ostdeutschen, ihren vor fast drei Jahrzehnten im wahrsten Wortsinn demonstrierten „Wunsch nach Freiheit, Demokratie und Einheit“. Zugleich sprach Antenbrink jedoch von „im Osten noch immer nicht gelösten Problemen“ und in diesem Zusammenhang auch davon, dass „eine rechtspopulistische Partei und in Teilen rechtsextreme Bewegungen, welche die Grundlagen einer pluralistischen Demokratie infrage stellen, erschreckend viel Zustimmung finden“. „Populisten verstehen sich ausschließlich auf das Ausbeuten von Sündenböcken und auf das Spalten der Gesellschaft. Sie sind deshalb selbst ein Problem“, so Antenbrink unter dem kräftigen Applaus der Anwesenden. Es sei gerade auch eine Aufgabe der Kommunalpolitik, „einem rechten Populismus in der Mitte unserer Gesellschaft Einhalt zu gebieten“.

Aus Sicht des Flörsheimer Bürgermeisters wird zudem der Themenkomplex Zuwanderung in der Öffentlichkeit „oftmals ohne jegliches Mitgefühl mit einer völlig unverhältnismäßigen Fixierung auf die problematischen Aspekte“ diskutiert. Deniz Yücel indes stellte in seiner mit „Deutschland schmeckt nicht mehr wie früher – Westdeutsche, Ostdeutsche, Türkdeutsche und die Sache mit der Einheit“ überschriebenen Rede ebenfalls die problematischen Aspekte, nur eben aus seiner subjektiven Sicht, in den Vordergrund.

Deniz Yücel war ein Jahr lang Gefangener des türkischen Staates. Der Freiheitsentzug des Türkei-Korrespondenten der Tageszeitung „Die Welt“ geschah zu Unrecht. Für seine Freilassung hatten sich nicht nur seine Familie und Freunde, nicht nur viele seiner Kollegen und ranghohe deutsche Politiker eingesetzt, auch viele Flörsheimerinnen und Flörsheimer hatten sich solidarisch erklärt und die sofortige Beendigung der Haft gefordert. Dafür bedankte sich Yücel ausdrücklich; man spürte, es war ihm eine Herzensangelegenheit: „Jede Mahnwache, jeder Brief, den Sie und viele andere Menschen mir geschickt haben, jede Lesung mit meinen Texten, jedes Tröten beim Autokorso – all das hat mir unendlich viel Kraft gegeben, um die Einzelhaft, die Anfeindungen und die Ungewissheit zu überstehen.“

„Einheit allein bedeutet Zwang“
Im Gefängnis sei er „gleichermaßen türkischer und deutscher“ und „eben auch flörsheimerischer“ geworden, so Yücel, der Flörsheim im Laufe seiner sehr langen, facettenreichen Rede als seine „Heimatstadt“ bezeichnete. Ihm mag es wie vielen anderen in der Fremde Inhaftierten ergangen sein: zurückgeworfen auf sich selbst setzt ein Besinnungsprozess ein, die Suche nach Halt.

Heimat kann Halt geben. Deniz Yücel, politisch links stehend, ringt – das wurde in seinen Ausführungen deutlich – um den Begriff Heimat: „Begriffe wie Heimat oder Identität sind eben nicht, wie einige Leute von links und noch mehr von rechts glauben machen möchten, fertige Schablonen. Die Welt ist keine Streichholzschachtel. Und wer freiwillig seine eigene Welt auf diese Größe reduziert, sollte wenigstens nicht dasselbe von anderen verlangen.“

Einheit allein sei wertlos, gab Yücel am Tag der Deutschen Einheit mit Blick auf die Politik des türkischen Staatspräsidenten zu bedenken: „Einheit allein bedeutet Zwang. Nicht umsonst spricht auch Tayyip Erdogan ständig von ‚einer Nation, einem Vaterland, einem Staat‘ – was wiederum nicht von ungefähr an einen anderen Führer erinnert.“ Einheit sei nur dann von Wert, „wenn sie mit Recht, Freiheit und Solidarität“ einhergehe, so Yücel: „Freiheit bedeutet selbstverständlich auch die Freiheit, auf Nation, Vaterland und Staat zu pfeifen, ob nun aus politischen, ästhetischen oder welchen Gründen auch immer. Solidarität ist die materielle Grundlage der Freiheit. Und Recht bedeutet selbstverständlich, dass die verbrieften Grundrechte immer und für jeden gelten.“ Vor diesem Hintergrund, allerdings erst zum Ende seiner Rede, sprach Yücel von „Frontlinien“, die jedoch nicht „zwischen ‚Deutschen‘ und ‚Einwanderern‘, sondern zwischen jenen, die für die offene Gesellschaft einstehen, und jenen, die diese verachten“ verlaufen würden. „Ob es sich dabei um Anhänger der AfD oder der AKP handelt, ist nebensächlich; sie sind Brüder im Geiste“, behauptete Yücel.

„Das geht gegen uns“
Yücel führte die Zuhörer mit einem Parforceritt durch die Geschichte des wiedervereinigten Deutschlands. „Wir sind wieder wer“ sei, verstärkt durch den Titelgewinn bei der Fußballweltmeisterschaft 1990, im frisch vereinigten Deutschland das Motto der Stunde gewesen. Allerorten, auch in Flörsheim, seien schwarz-rot-goldene Fahnen gehisst worden. Viele Deutschtürken hätten seinerzeit gedacht: „Das geht gegen uns.“ Yücel erinnerte in diesem Kontext an die zum Teil pogromartigen Ausschreitungen in den 90er Jahren – und an die sich mit ihnen vertiefende Spaltung der Gesellschaft: „Wir sahen uns vielleicht nicht als Deutsche, aber auch nicht als Türken und erst recht nicht als Fremde. Aber das war egal. Denn sie sahen uns so.“ Ganz anders die Situation unter dem Eindruck des „Sommermärchens 2006“: vor zwölf Jahren seien es die Türkdeutschen gewesen, die Schwarz-Rot-Gold als erstes gehisst hätten. Der tiefe Spalt aus den 90ern schien weitestgehend verschwunden zu sein. Wiederum zwölf Jahre später müsse indes ein Rückschritt konstatiert werden, meinte Yücel in Anspielung auf den von ihm attestierten wachsenden Populismus rechter Prägung.

„Abstiegsangst“
Stadtverordnetenvorsteher Steffen Bonk sprach in seinem Schlusswort von „Grenzlinien“, die „noch immer bewusst und unbewusst“ vorhanden seien. Sie seien, wie er schmunzelnd hinzufügte, „noch intensiver als diejenigen zwischen Wicker und Weilbach“. Aus seiner Sicht gibt es im Osten Deutschlands eine stärker als im Westen ausgeprägte „Abstiegsangst“ sowie eine „Ängstlichkeit vor dem Fremden und Unbekannten“. Bonk forderte, die Einheit vor den Populisten (das Synonym lautet AfD) zu schützen: „Spalter und Rechtsextreme dürfen keinen Platz erhalten.“ Der Applaus des Publikums war ihm gewiss.
 

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