Stille Mahnwache für die Vorfahren

Menschliche Überreste bei Baggerarbeiten auf dem Alten Eddersheimer Friedhof ausgegraben / Totenwache der IG Main Eddersheim

Auch wenn einige IG-Mitglieder in Urlaub sind – an der stillen Totenwache für die auf dem alten Friedhof bestatteten Eddersheimer beteiligten sich die übrigen dem Anlass gemäß in Schwarz gekleidet.
(Fotos: A. Kreusch)

 

EDDERSHEIM (ak/mpk) – Ob es nur eine makabre Vorliebe des Lastwagenfahrers ist oder vielleicht doch eine bezeichnende Charakterisierung des Baggerunternehmens sein könnte: Der lebensgroße Kunststoff-Totenschädel im Führerhaus des LKWs, der in der letzten Woche auf dem Lindenplatz direkt neben dem Grundstück des alten Friedhofs geparkt war, sorgte jedenfalls für einiges Aufsehen und schwarzhumorige Bemerkungen. Gleich zu Beginn der Abriss- und Baggerarbeiten auf dem alten Eddersheimer Friedhof an der Bahnhofstraße, auf dem acht neue „Townhouses“ entstehen sollen, waren nämlich am Mittwoch, 19. Juli, eine ganze Menge menschlicher Knochen und Schädelüberreste ans Tageslicht befördert worden

Jürgen Ulbrich, seit 33 Jahren Eddersheimer, war an diesem Tag beruflich im Ort unterwegs. „Als ich in die Bahnhofstraße eingebogen bin und den großen Oberschenkelknochen aus dem Bauaushub hab‘ herausgucken sehen, hab‘ ich mir gleich gedacht: es sind doch Gräber gefunden worden“, erzählt Ulbrich, der daraufhin sofort sein Auto geparkt und mit den Arbeitern des Baggerunternehmens gesprochen hat. „Die haben mir erzählt, dass gleich beim ersten Aushub acht Gräber und wenig später auch noch zwei Gruften gefunden und beim Ausbaggern natürlich auch zerstört wurden“, berichtet er weiter, „die Knochen und Schädelfragmente lagen alle auf dem Aushubberg und im Gelände verstreut herum. Die Arbeiter haben gesagt, sie sollen insgesamt 4.000 Kubikmeter Erde dort ausheben und zur Deponie abtransportieren.“ 
Dazu kam es dann erst einmal nicht, das Denkmalschutzamt war informiert worden und offenbar musste der Aushub erst einmal wieder dahin zurück, wo er hergekommen war: Bis zum Freitag waren die großen Gruben wieder verfüllt und abgedeckt worden, auf die beiden Gruften hatte man sogar den tonnenschweren Bagger gestellt.
Der alte Friedhof war mehr als 100 Jahre lang letzte Ruhestätte für Eddersheimer, die letzte Bestattung dort fand 1917 statt. Die Bagger-Arbeiter schätzen dort mehr als 100 Gräber. Auch Hinweise auf die Bestattung von Seuchenopfern konnte man beim Ausbaggern tatsächlich sehen. „Es gab Überreste, an denen man gut erkennen konnte, dass die alten Gräber mit sogenanntem Rubbelton eingekoffert waren. Das hat man früher gemacht, wenn man verhindern wollte, dass Körpersäfte von Seuchenopfern in das Erdreich kommen“, berichtet Jürgen Ulbrich weiter. Er kennt sich mit der Ton- und Lehm-Materie aus, da er seit vielen Jahren als Hobby-Paläontologe und Mitglied der Grabungsgruppe der AG Paläo-Geo in Messel in Lehmschichten forscht. „Man weiß ja auch, dass es in Eddersheim zwei Milzbrand-Epidemien gab“, ergänzt Ralf Respondek. Allerdings hatte das Gesundheitsamt die Unbedenklichkeit der Bebauung des alten Friedhofes schon vor einiger Zeit bestätigt.
Unerwarteter Baggereinsatz
Bei einigen Eddersheimern lösten die „einfach so“ ausgebaggerten Knochen heftige Gefühle aus. „Die ganze Zeit bin ich davon ausgegangen, die Häuser kommen – so wie vorher der Kindergarten – auf eine Bodenplatte oben drauf“, wunderte sich etwa Reiner Steinbrech, dessen Vorfahren auf dem alten Eddersheimer Friedhof bestattet sind. „Dass dort alles ausgebaggert werden soll, war mir gar nicht bewusst.“ Auch die Familie von Christine Dörr stammt aus Eddersheim, auch sie sehr ist betroffen vom Umgang mit den Überresten ihrer Ahnen: „Uns ist immer gesagt worden, da seien keine Gräber mehr, der Friedhof sei ja schon so lange entwidmet“, erzählt sie. Dass nun Bauarbeiter die dort gefundenen Knochen einfach mit dem Bagger umherschieben und sogar schon Gerüchte im Umlauf sind, manche Überreste seien einfach in gelbe Mülltüten eingesammelt und entsorgt worden, macht sie sehr traurig. „Da hat man offensichtlich die Arbeiter auch überhaupt nicht für den Umgang mit sterblichen Überresten sensibilisiert“, sind sich die Mitglieder der Interessengemeinschaft Main Eddersheim einig.

Spontane Totenwache
Um den Toten wenigstens ein Mindestmaß an Respekt zu zollen, hatten diese sich am letzten Freitagabend spontan zu einer stillen Totenwache an der alten Friedhofsmauer versammelt. Die Mauer wurde von ihnen mit Kerzen und Blumen geschmückt. „Wir hätten gerne wenigstens eine Gedenktafel an den alten Friedhof hier an dieser Stelle“, formulierte Christine Dörr die Idee der IG Main Eddersheim, „besonders schön wäre es natürlich, wenn wenigstens ein kleines Stück der alten Mauer dafür stehen bleiben könnte.“ Was denn nun mit den gefundenen Gebeinen passieren wird, wurde natürlich ebenfalls heftig diskutiert – eine rechte Antwort wurde nicht gefunden.

Die katholische Kirchengemeinde St. Martinus sieht sich dabei allerdings nicht – wie von der IG vermutet – als direkter Ansprechpartner. „Da muss man sich an den Bauherren wenden, wenn man so etwas auf dem Baugelände haben möchte, und wenn die Gedenktafel auf dem Lindenplatz sein soll, dann ist die Stadt als Eigentümer der richtige Ansprechpartner“, erklärte Pfarrer Andreas Klee auf telefonische Nachfrage. Auch was denn nun mit den gefundenen Gebeinen passieren soll sei eine Sache des Bauträgers, der in dieser Sache dann gegebenenfalls auf die Gemeinde zukommen müsse, wenn etwa eine Bestattung an anderer Stelle ins Auge gefasst werden würde. „Ansonsten können wir nur auf die erteilte Baugenehmigung verweisen“, sagt Pfarrer Klee, „da müssten eventuelle Einschränkungen durch die Ämter ja drin stehen.“

Die Friedhofsordnung der Stadt Hattersheim sagt nichts über die Entsorgung von Gebeinen etwa aus abgeräumten Gräbern aus, die bei einer Wiedervergabe der Grabstätte nach einer Karenzzeit ja auch durch das Ausbaggern des Nachfolgegrabes schon mal ans Tageslicht kommen. Üblicherweise verbleiben diese Knochen einfach in der Friedhofserde, die das neue Grab dann wieder abdeckt, und der früher Verstorbene muss nicht an anderer Stelle noch einmal bestattet werden. Allerdings gilt es offenbar als Ehrensache unter Bestattern, dass die Angehörigen nicht bemerken, dass auch alte, fremde Knochen das frische Grab mit bedecken.

Einen ähnlichen Fall, wie er nun in Eddersheim aufgetreten ist, gab es im Jahr 2015 in Heidelberg, als dort beim Ausbaggern für das Fundament eines neuen Wohn- und Geschäftshauses auf dem Gelände eines schon 1844 aufgegebenen Friedhofes menschliche Gebeine gefunden wurden. Dort konnten unter anderem Vertreter des Friedhofsamtes den Investor, dem selbst an einer würdevollen Behandlung der menschlichen Überreste gelegen war, überzeugen, die gefundenen Knochen auf einem anderen Friedhof beizusetzen – und das, obwohl dieses vom Denkmalschutzamt nicht vorgeschrieben wird. Auch ein Gedenkstein wurde dort gesetzt und es fand sogar eine Gedenkstunde zusammen mit dem katholischen und dem evangelischen Pfarrer statt. Bis zu dieser Feier wurden die Gebeine bei der Stadt Heidelberg eingelagert (Quelle: Rhein-Neckar-Zeitung, 3. Dezember 2015).

Konsequenz: Kirchenaustritt
Auch wenn sich die katholische Kirche nicht in der Pflicht sieht, haben einige Eddersheimer schon ihre persönlichen Konsequenzen aus dem nach ihrer Ansicht pietätlosen Umgang mit dem ehemaligen Friedhof in Eddersheim gezogen. „Ich bin katholisch aufgewachsen und erzogen, und ich habe auch meinen Glauben immer noch – aber in einer Kirche, die so etwas zulässt, möchte ich nicht mehr sein“, war zu hören von einer Dame, die gleich am Freitag ihren Austritt aus der Kirche erklärt hat, während ihr Ehemann noch zögert. „Das war für mich eigentlich noch niemals ein Thema, aus der katholischen Kirche auszutreten. Da habe ich noch nie auch nur entfernt dran gedacht, ich bin mit dem katholischen Glauben groß geworden. Aber jetzt bin ich doch sehr betroffen“, meinte dieser.

Vielleicht hat die IG Main Eddersheim ja mit ihrer stillen Totenwache den Verantwortlichen deutlich machen können, dass es ihr nicht um die Verhinderung des Bauvorhabens geht, sondern dass den Mitgliedern daran gelegen ist, einfach das Gedenken an den alten Eddersheimer Friedhof und die vielen Eddersheimer, die dort bestattet wurden, zu erhalten. Eine Lösung in diesem Sinne kann allerdings wohl nur möglich sein, wenn die IG das Gespräch mit dem Bauherrn sucht.

Wiederbestattung angedacht
Dr. Beate Leinthaler vom Landesamt für Denkmalpflege Hessen stellte auf Anfrage des Hattersheimer Stadtanzeigers fest, dass es sich hierbei nicht um eine Frage des Denkmalschutzes, sondern der Pietät handelt. Der pietätvolle Umgang mit den ausgegrabenen Knochen sollte durch eine Wiederbestattung gewährleistet werden. Zudem läge der Verdacht nahe, dass das ausgehobene Knochenmaterial womöglich bereits vor 60 Jahren beim Bau des alten katholischen Kindergartens St. Martin aufgewühlt wurde.

 

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