Wie ein Wimmelbild von Mitgutsch

Jürgen Seng führte Besuchergruppen durch sein Blaues Haus in der Mainzer Straße

Den Namen „Blaues Haus“ hat nicht Seng in die Welt gesetzt, wie er betont. Dass die Bischofsheimer angesichts des Fassadenbildes auf die Bezeichnung kamen, ist allerdings nachvollziehbar.
(Fotos: Gössl)

BISCHOFSHEIM (ag) – „Jedes Haus hat seinen Geist!“, sagt Jürgen Seng, und so habe sein Haus den Geist „Lenore“. Ihr hat der Künstler gar ein eigenes Zimmer gewidmet. Interessiert lauschten die Besucher den Ausführungen Sengs. Die Ballade „Lenore“ von Gottfried August Bürger habe ihn schon seit seiner Schulzeit begeistert und so habe er den Text der Lenore in einen Bildzyklus umgesetzt. Etwa 20 kunstvoll, mit feinster Feder gezeichnete Werke sind so im Laufe der Zeit entstanden, die ihren Platz in einem der Zimmer im Obergeschoss des Hauses in der Mainzer Straße 9 in Bischofsheim gefunden haben.

Ein Erlebnis der besonderen Art konnten die Besucher des „Blauen Hauses“ am Samstag, 19. Mai, in Bischofsheim genießen. Für etwa drei Stunden gewährte der Künstler Jürgen Seng Einblick in sein Schaffen. Geplant, so Volker Schütz vom Heimat- und Geschichtsverein, der den Besuch organisiert hatte, sei eine Begehung mit etwa 20 Personen gewesen. Doch das Interesse sei mit über 60 Anmeldungen so groß gewesen, dass aus dem einem gleich drei Besichtigungstermine wurden.

Bereits um 11.30 Uhr hatte sich die erste Besucherschlange gebildet. Das Warten im Hof war äußerst kurzweilig, da es schon hier eine Menge zu entdecken gab. Ob Blau denn seine Lieblingsfarbe sei, wurde Seng gefragt. Das ließ er süffisant offen, denn den Namen „Blaues Haus“ habe nicht er, sondern die Bischofsheimer Bevölkerung gewählt, und unter diesem Namen sei es nun über die Ortsgrenze hinaus bekannt.

Vorsicht, so Seng, sei beim Betreten des Hauses geboten, denn die Besucher erwarten viele unebene Stellen auf den Böden, die zu „Stolperfallen“ werden könnten. Diese gab es dann nicht nur für die Füße, sondern insbesondere für die Augen. Mit dem Betreten des Hauses kamen die Besucher in eine andere Welt. Vergleichbar mit dem Naturschauspiel einer Tropfsteinhöhle, wo die Stalaktiten von den Decken nach unten und Stalagmiten von den Böden nach oben wachsen, offenbarte sich in den Räumen eine ähnlich wunderbar gewachsene Welt. 

„Das ist ja fantastisch, unglaublich, unfassbar“, war allenthalben zu hören. Was dem Künstler Ali Mitgutsch mit seinen fantasievollen Wimmelbild-Kinderbüchern gelungen ist, hat Seng in jahrzehntelanger Arbeit dreidimensional und begehbar gestaltet. Unvorstellbar viele Einzelheiten sind da zu einem Gesamtkunstwerk zusammengewachsen, und immer wieder gibt es etwas Neues zu entdecken und zu erkennen. 

Jürgen Seng, heute 73 Jahre alt, hat vor 40 Jahren damit begonnen, das Haus seines Großvaters, sein Elternhaus mit Baujahr 1910, umzugestalten. Von Christine Mertin aus Ginsheim wurde er gefragt, ob sein Schaffen Entspannung oder manisch sei. Da musste Seng schmunzeln. Nein, manisch sei es nicht, aber eine Art Therapie und vor allem ein Ausgleich zu seinem Beruf als Lehrer sei es auf jeden Fall gewesen. Wer in der Schule in der 1. Stunde in dieser, in der 2. Stunde in jener Klasse unterrichte und dazu noch jede Menge Vertretungsstunden geleistet habe, der sehne sich danach, auf etwas blicken zu können, das er geschaffen habe und das sei sein Haus.

Horst Schneider, aus dem Haus gegenüber, war mit Tochter, Enkelsohn und Urenkelin gekommen. „Ich bewundere das“, erklärte der 90-Jährige, „was der Jürgen da zusammengestellt hat.“ Schneider hatte es sich nicht nehmen lassen, auch die fast unwegsame Treppe nach oben zu nehmen, um ja auch alles gesehen zu haben.

Mit 75 möchte Seng die Arbeit am Haus einstellen, doch wer ihm zuhört und den Stolz in seiner Stimme vernimmt, wenn er sein Werk erklärt, mag nicht so recht daran glauben. Wurde Seng in den 80er-Jahren von den Bischofsheimern noch eher als Spinner belächelt, als er begann, die Fassade seines Hauses umzugestalten, eine ausgediente Schaufensterpupe plötzlich das Balkongeländer zierte und diese wiederum langsam mit der Fassade verschmolz, so ist die Häme von einst in Staunen und Bewunderung umgeschlagen. Spinnerei und Genialität gehen oft eng zusammen. 

Das Haus in der Mainzer Straße hat als Wohnraum seinen Wert komplett verloren, aber als Kunstwerk habe es einen unschätzbaren Wert, so Seng.

In der Schule habe er mit den Schülern eine Geisterbahn gebaut, die musste aus Brandschutzgründen wieder abgebaut werden, ein Teich wurde wieder zugeschüttet. Sein Haus dagegen kann jeder auf eigene Verantwortung besuchen, die Kunst beuge sich hier keiner Vorschrift.

Was aber wird sein, wenn er einmal nicht mehr kann oder nicht mehr ist? Diese Frage stellte Seng selbst in den Raum. Eine Stiftung könne er sich vorstellen. Einen Verein, der das Werk erhält, gleichfalls. Auf die Frage angesprochen, ob der HGV sich vorstellen könne, das Projekt unter seine Obhut zu nehmen, wollte Schütz nicht eindeutig antworten. Erhaltenswert als Attraktion und Ort der Inspiration sei das Haus allemal, doch ob der Verein das leisten könne, vermochte er nicht zu sagen.

Die Öffnung für die Öffentlichkeit wird, einem Schneeball gleich, in der Zukunft immer mehr Neugierige anlocken, denn das „Blaue Haus“ in der Mainzer Straße in Bischofsheim, das sollte man mal gesehen haben.

 

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