Reinhardt hielt das Werk am Leben

Historikerin Christine Hartwig-Thürmer referierte über den Betriebsleiter des Gustavsburger MAN-Werkes

An der Diskussion, die man über die Position der Referentin führen könnte, bestand an diesem Abend kein Interesse. Die Frage nach Schuld und Unschuld der Industriebetriebe und ihrer führenden Köpfe am einstigen Kriegswahn in Deutschland wird im Rahmen der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit immer wieder aufgeworfen.

Zweifellos war auch die Firma MAN inklusive des Gustavsburger Zweigwerkes ein enorm kriegswichtiges Unternehmen im Sinne der Eroberungsphantasien der Nationalsozialisten. Nicht zuletzt, weil im unterirdisch eingerichteten Weisenauer Nebenwerk noch während des sich schon anbahnenden Untergangs des Reiches durch die Produktion von Abschussrampen für die V1- und schließlich die nie serienreif gewordenen V2-Raketen eine "kriegswichtige Aufgabe" zu erfüllen war.

War MAN-Betriebsleiter Richard Reinhardt daher nun also automatisch ein Mittäter bei dem Vernichtungsfeldzug des Führers, oder doch ein heimlicher Widerständler? Die Frankfurter Historikerin Christine Hartwig-Thürmer, in Gustavsburg aufgewachsen, beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Geschichte des hiesigen MAN-Werkes und seiner Rolle im Nationalsozialismus. Werksleiter Reinhardt, von 1936 bis 1952 für die Produktion zuständig, ist für sie eine bisher viel zu wenig gewürdigte Persönlichkeit, gerade wegen seines Verhaltens in diesen übelsten Jahren der deutschen Geschichte. Sie wollte zeigen, „dass Reinhardt als verantwortungsvoller Betriebsleiter für den Weiterbestand des Gustavsburger Werkes gesorgt hat“, erläuterte sie am Montagabend das Ziel ihres Vortrags im TIGZ-Gründerzentrum

Das residiert bekanntlich im ehemaligen Verwaltungsgebäude des MAN-Werkes. Hartwig-Thürmer bot auf Einladung der Stadtverwaltung am Montag einen vertiefenden Ausschnitt aus ihrer Forschungsarbeit zu Reinhardts Wirken in Gustavsburg, als Teil der Angebote in der Reihe „Tage der Industriekultur“. So fanden viele Zuhörer in den Vortragssaal, die sonst nicht mit der Gustavsburger Geschichte vertraut sind, aber auch zwei Zuhörer, die Reinhardt als ehemaligeMAN-Beschäftigte noch aus eigenem Erleben kannten – und ebenso das Zwangarbeiterlager „Rosengarten“ in der Nachbarschaft des Werks aus eigener Anschauung.

Auch anwesend: Reinhardts Enkelin Lore Julius, die als Hochschulpastorin in Osnabrück lebt. Sie war interessierte Zuhörerin des Vortrags, die zudem an einigen Punkten ihre eigenen Erinnerungen von der Gustavsburger Familiengeschichte beisteuerte. Besonders, wie die Familie Reinhardt Opfer des Kriegegeschehens wurde, konnte sie vertiefend schildern, wenn auch natürlich nicht aus eigener Erinnerung. Es war die ältere Schwester ihrer Mutter, die beim Alliiertenangriff auf Mainz, bei dem auch in Gustavsburg Bomben niedergingen, durch einen Granatsplitter in die Lunge getroffen wurde, weil sie sich zum Zeitpunkt des Angriffs nicht in den Luftschutzbunker retten konnte. Sie starb im Beisein der Familie in den Werksräumen. "Ein einschneidendes Ereignis für die gesamte Familie", sagte Julius.

Nach dem Krieg war das Dank der vorausschauenden Handlungen Reinhardts sofort wieder für Aufträge bereite Werk für die Produktion der heute bekannten Stahlhäuser zuständig, genau das kostete Reinhardt allerdings 1952 auch den Job. In den Kriegsjahren zeichnete Hartiwg-Thürmer drei Hauptfelder der Bautätigkeiten des Werkes nach: den Bau des „Ausländerlagers“ für die Zwangsarbeiter, der Luftschutzbunker und schließlich des unterirdischen Außenwerks auf der anderen Rheinseite in Weisenau.

Nach Hartwig-Thürmers Einordnung versuchte Reinhardt „sein“ MAN-Werk über die schwierigen Zeiten zu bringen und dabei doch eine gewisse Haltung zu bewahren. Richard Reinhardt war seit 1942 NSDAP-Mitglied, ein Umstand, den man ihm nach dem Krieg, als er im Juni 1947 von der Spruchkammer recht unproblematisch die Entlastung erhielt und somit wieder die Werksleitung übernehmen konnte, allerdings nicht krumm nahm. Denn es wäre wohl auf Dauer in seiner Position sonst kaum möglich gewesen, nicht durch einen eindeutig Parteitreuen ersetzt zu werden. Konzernchef Paul Reusch, obwohl 1942 selbst durch die Nazis kaltgestellt, was aber eher aus wirtschaftspolitischen denn ideologischen Dissens geschah, galt als wenig aktiv, wenn es darum ging, Mitarbeiter vor Repressalien des Staates zu schützen.

Ein Foto von einer Maifeier zeigt Betriebsleiter Reinhardt ohne Parteiabzeichen, dafür mit seiner Mütze aus dem I. Weltkrieg. 1919 mit Notabitur versehen, war er seit 1925 bei MAN angestellt, zunächst im Nürnberger Werk, ab 1933 in Essen bereits als Direktor tätig. Reusch entschied schließlich, ihn 1936 ins Gustavsburger Werk zu versetzen, einen Bezug Reinhardts zur Region oder gar Gustavsburg gab es bis dahin also nicht.

Seine Grundhaltung wurde immer deutlicher, je schwieriger die Lage im Land war. Nachdem 1942 Albert Speer vom tödlich mit dem Flugezug verunglückten Fritz Todt das Rüstungsministerium, genauer den Job als „Reichsminister für Bewaffnung und Munition“ übernommen hatte, war der große Skeptiker am Ostfeldzug Hitlers beseitigt. Todt, betonte Hartwig-Thürmer, hatte ganz kühl nachgerechnet und war zur Überzeugung gekommen. dass schon aufgrund der Ressourcenlage der Krieg nicht zu gewinnen sei und das Reich sich andere Lösungen überlegen müsse. Mit Speer wurden die Vorgaben eindeutig: Ab 1942 durften einschlägige Materialien nur noch für Kriegszwecke verwendet werden. Davon waren Betriebe wie auch das Gustavsburger MAN-Werk natürlich sehr stark betroffen.

Dazu gehörte aber auch, dass die Produktion in den Werken zunehmend ohne heimische Arbeitskräfte auskommen musste, denn die waren an der Front oder schon unter der Erde. Laut Hartwig-Thürmer hatte Reinhardt keine Chance, sich dem sich ausbreitenden System des Einsatzes von Zwangsarbeitern in den wichtigen Produktionszweigen zu widersetzen, „eine Weigerung wäre als Sabotage eingestuft worden“. Aber er habe versucht, „die Rahmenbedingungen menschlich zu gestalten“.

So sei es ungewöhnlich gewesen, dass in Gustavsburg die Luftschutzbunker auch den Zwangsarbeitern zur Verfügung standen, während sie andernorts in „Splittergruben“ zu überleben hoffen mussten. Generell habe es im hiesigen MAN-Werk neben den Zwangsarbeitern, die vornehmlich aus Russland kamen, auch Zivilarbeiter aus anderen (besetzten) Ländern gegeben, denen sogar so etwas wie Arbeitnehmerrechte z.b. Urlaube zustanden.

Die Arbeitslager, obwohl vom Werk errichtet, waren nicht in der Zuständigkeit von MAN, dennoch versuchte Reinhardt bei Beschwerden seiner Arbeiter an den Zuständen zu helfen, etwa, indem er sich für eine bessere Essensversorgung einsetzte und gegen Gewaltexzesse der Lagerleitung vorging. Immer wieder seien zudem Arbeitskräfte vom Werk abgezweigt worden, um den Bau der Schutzbunker voranzutreiben, obwohl diese nicht als „kriegswichtig“ einzustufen waren.

Als Speer die Verlagerung von Produktionsstätten in unterirdische Anlagen anordnete, begann Reinhardt 1944 taktisch zu handeln, um die Zukunft des Werkes zu sichern. Denn so ein unterirdischer Stollen war natürlich auch prima geeignet, um Maschinen vor den Bombenangriffen zu sichern und so nach dem Krieg direkt wieder zur Verfügung zu haben. Und so war das Gustavsburger MAN-Werk tatsächlich bereits vor der Kapitulation des Reiches, etwas ab März 1945, schon wieder dabei, zivile Aufträge anzunehmen und abzuarbeiten. „Eine Taktik, die aufging“, resümiert Hartwig-Thürmer.

Lücken in den Akten machen es der Historikerin schwer nachzuvollziehen, was am Kriegsende mit den rund 2000 Arbeitern passierte. Bekannt ist, dass diese am Morgen des 19. März 1945 antreten mussten und in Richtung Groß-Gerau und Darmstadt abmarschierten, ohne dass etwa die Essensverpflegung geregelt gewesen wäre. Ab dem 23. März war das Werk dann erst einmal geschlossen. Im Oktober wurde Reinhardt von den Besatzern die Leitung des Werks vorerst entzogen, bis er fast eineinhalb Jahre später von der Spruchkammer als entlastet eingestuft wurde.

Im Jahr 1948 kam die Idee auf, die Produktion der Stahlhäuser aufzunehmen. Ein Schritt, der Gustavsburg zwar eine bis heute prägende Siedlungsstruktur gab, dem Werksleiter aber letztlich wegen der betriebswirtschaftlichen Bilanz der Produktion den Job kostete, MAN-Generaldirektor Otto Meyer schickte 1952 den erst 53 Jahre alten Reinhardt in den Ruhestand. Dem gefiel das gar nicht, aber er fand neue Lebensinhalte. Bis zu seinem Tod im Jahr 1984 war er ein früher Verfechter der Umweltpolitik, äußerte sich etwas beim Bau des AKW Würgassen an der Weser, das ab 1968 gebaut wurde, 1971 in Betrieb ging und bis 1994 am Netz war, kritisch, wenn auch eher aus fachlichen, denn grundsätzlich atomenergiekritischen Gründen: Reinhardt sah vor allem die Sicherheit der Reaktorhülle als nicht gegeben.

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