Im vergangenen Jahr taten sich die Stadt Flörsheim und das Flörsheimer Amateurtheater (FAT) zusammen, um mit einem Theaterabend den 75. Geburtstags des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland auch in der Stadt zu begehen. Nach jenem Septemberabend 2024, der sich auf das Wirken der Frauen fokussierte, die an der Ausarbeitung der Verfassung beteiligt waren, stellte sich vor allem eine Frage: Was könnte man im nächsten Jahr tun, wenn sich die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten zum 35. Mal jährt?
Am Montagabend war in der Kulturscheune das Ergebnis zu sehen: Das FAT lieferte auch zu diesem deutschen Jubiläum das kulturelle Angebot. Unter dem Oberbegriff „Geschichte vor Ort“ boten sieben Ensemblemitglieder des Amateurtheaters ein einstündiges Stück, das ähnlich wie vor rund einem Jahr im Kern aus Vorträgen bestand und so beispielhafte Eindrücke aus dem Leben hüben und drüben in den Jahren vor und nach der Vereinigung vermittelte.
„Im Frühjahr haben wir uns mit Luzia Platt zusammengesetzt“, berichtete Kulturamtsleiter Christopher Naumann zur Einleitung von der Ausarbeitung des Konzeptes mit der Regisseurin. Ralf Keß arbeitete dann die Rahmenhandlung aus. Die beiden Biografien, die im Mittelpunkt des Stücks standen, erarbeiteten sich die Darstellerinnen selbst.
Der Wiedervereinigung ging elf Monate zuvor der Fall der 154 Kilometer langen Berliner Mauer voraus, des „antifaschistischen Schutzwalls“, wie er vom DDR-Regime offiziell betitelt wurde, und in der Folge der Abbau der 1400 Kilometer langen, verminten und bewaffnet überwachten Grenzanlage zwischen BRD und DDR. „Die Mauer hat Deutschland getrennt, aber es gibt auch heute noch Mauern, es bleibt ein Thema“, hielt Naumann fest.
„Die Himmelsrichtung spielt keine unerhebliche Rolle bei der Interpretation der Geschichte“, war eine Grundannahme des Rückblicks auf die Wendezeit wie auf die 40 Jahre, in denen die beiden deutschen Staaten – im Westen bestanden national gesinnte Kreise stets auf der Formulierung „die zwei Staaten in Deutschland“ – die Grenzlinie zwischen NATO und Warschauer Pakt bildeten. Mitten durch Deutschland ging somit die Demarkationslinie des Kalten Krieges zwischen Ost und West
Mit dem Mauerbau im August 1961 trennten sich die Biografien der Menschen in den sowjetischen und den westlich-alliierten Besatzungsgebieten endgültig. Das FAT bemühte sich, den fiktiven Protagonisten „Elisabeth“ (Katja Leppert), 1948 im Westen geboren, und „Monika“ (Claudia Mohr), Jahrgang 1952 und in Neustadt-Glewe bei Ludwigslust aufgewachsen, eine Biografie zuzuschreiben, die bewusst ziemlich durchschnittlich für ein Leben im West- wie Ostdeutschland gehalten war. Normale Bürger ohne besondere Einbindung in das politische Geschehen.
Als Seitenkick stellte Jean Lauck einen jungen Menschen dar, der diese Zeit nicht selbst erlebt hat und somit als Außenstehender manche Fragen an die Zeitzeugen stellt. „Weg mit den Schablonen, ihr müsst einfach mal zuhören“, forderte er ein. Nun, dass die geschilderten, typischen Biografien aus West und Ost nicht gänzlich umhin kommen, solche Schablonen zu bedienen, ergibt sich daraus, dass sie ja gerade keine herausragenden sein sollten, die es auf beiden Seiten natürlich auch reichlich gab.
„Elisabeth“ wächst mit der ersten Nachkriegsgeneration in die Aufbaujahre der jungen Bundesrepublik hinein. Was davor war, blieb für sie im Dunkeln. „In den Familien wurde über die NS-Zeit nie gesprochen“, betont Elisabeth. „Man hat uns die Jugend gestohlen“ sei dagegen von bestimmten Jahrgängen immer wieder zu hören gewesen. Mit der Fußball-WM 1954 wuchs das Selbstbewusstsein der besiegten Nation. „Wir sind wieder wer, hat mein Vater gesagt.“
Das Treffen Konrad Adenauers mit Charles de Gaulle, 1958 Anfangspunkt der deutsch-französischen Aussöhnung, war für Elisabeth ebenso ein Ereignis, das große Auswirkungen hatte. Einige Jahre später ist sie erwachsen und studiert in Bonn Sozialpädagogik, setzt sich für Frauenrechte ein, heiratet nach einigen Jahren des provokanten Zusammenlebens ohne Trauschein ihren Freund Thomas 1975, ein Jahr später wird die Tochter geboren. „Wir wollten sie anders erziehen“, betont Elisabeth. Also geht der Nachwuchs in den Walldorf-Kindergarten und später die Walldorf-Schule. Es ist die Zeit der aufkommenden Friedensbewegung, Elisabeth mischt mit und wird Grünen-Mitglied. Mit dem Mauerfall kommt die Sowjetunion ins Rutschen, die Blöcke lösen sich auf. Da fragt die Tochter sie, was dies nun zu bedeuten habe und Elisabeth antwortet: „Vielleicht, dass Du alles erreichen kannst.“ Auch Ehemann Thomas will sich auf die neuen Zeiten einlassen und sagt: „Vielleicht ist es an der Zeit, unsere Mauern einzureißen.“
Vier Jahre jünger ist Monika mit ihrer Ostbiografie. Sie hat den Eindruck, dass manche Erinnerungen verblassen, andere präsenter sind, „Es ist eben alles subjektiv“, schließt sie aus diesem persönlichen Filter. Und ein spezieller ostdeutscher Faktor kommt dazu: „Mit dem Wissen von heute sieht man die Dinge etwas anders als damals.“ In der Familie Monikas wird deutlich mehr kommuniziert als bei Elisabeth, auch mal kritisch, aber nicht zu dolle. Vater arbeitet in der Lederindustrie. Sie lebt mit zwei Geschwisterkindern und den Eltern zu sechst in einer Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung, denn Oma wohnt auch bei der Familie und spielt im Leben Monikas offenbar eine wichtige Rolle. „Sie war froh, als es wieder genug zu essen gab“, erinnert sie sich. Oma erzählt aber auch mal politische Witze, die traut sich was. Erst 1975 soll es mit der Zuteilung einer Wohnung in einer Plattenbausiedlung etwas komfortabler werden, aber die Eltern wollen da nicht hinziehen.
Monika fragt diese bald darauf, warum sie 1953, nach der Zerschlagung des Aufstands vom 17. Juni, nicht in den Westen gegangen sind, „sie haben den Mut dafür nicht aufgebracht“. 1958 kommt Monika in die Schule. „Seid bereit! – Immer bereit!“ – die Losungen der Lehrer und Jungpioniere sind ihr noch immer im Ohr. Ihr Bruder Stefan entwickelt sich in eine schwierige Richtung, „er hat nicht geschwiegen und wollte rebellieren“.
Eine spezielle Frisur und das Gründen einer Musikband drücken das aus, gab natürlich Ärger. Monika dagegen will unbedingt die Jugendweihe mitmachen. Aber auch bei ihr kommt, je älter sie wird, das Gefühl des Unerfüllten auf. Denn in Hamburg hat sie eine Cousine. Hannelore schickt ab und zu Pakete. Monika faszinieren beim Öffnen vor allem „die Ausdünstungen einer imprägnierten Jeans“. Ein vermoderter Fisch ist in einen Zeitungsbericht eingewickelt, den es in der DDR nicht zu lesen gab. Er schildert die Flucht entfernter Verwandter in den Westen, im Fesselballon.
Die DDR ist bald darauf am Ende. Monika interessiert heute vor allem, wie sie in der Retrospektive das wahrnimmt, was sie zu DDR-Zeiten schon mal gelesen hatte. „Es lohnt sich, zum Bücherschrank zu gehen und Christa Wolfs Werke noch mal durchzuschauen.“
Das kulturelle Erbe in Ost und West ist ein besonders geeignetes Mittel, heute die Stimmung der getrennten Jahre nachzuvollziehen, gerade für alle, die nicht dabei waren. Darauf weist auch der junge Mann hin und zitiert „Auf und davon, nicht noch eine Saison“ aus dem Lied „Grauer Beton“ des Chemnitzer Musikers Trettmann (Stefan Richter). Udo Lindenberg besang 1979 das „Mädchen aus Ostberlin“, das er mit seinem Tagesausweis abends stets wieder hinter der Mauer zurücklassen musste, der Song wurde im Saal eingespielt. Und tatsächlich auch noch „Ein bisschen Frieden“ von Nicole (1982), mitten im kältesten Kalten Krieg ein ESC-Erfolg.
Weitere Themen wurde angesprochen, so noch einmal die wundersame Mauer. „3,50 Meter hoch, 50 Zentimeter dick, 150 Kilometer lang - was besagt das schon?“, fragte Platt, denn der Wind, Vögel, die Sonne scherten sich um sie nicht. Der „Wind of Change“ blies dann auch tatsächlich über den Ostblock hinweg – auch der ikonische Scorpions-Song zur großen politischen Wende durfte natürlich nicht fehlen.
Für die Deutschen sind die Schabowski-Rede, die etwas tolpatschig die Aufhebung der Reisesperre der DDR-Bürger verkündete, und die erste gemeinsame Silvesterfeier in Berlin nach dem Mauerfall weitere, fest mit der Wende und der Wiedervereinigung ein knappes Jahr später in den Erinnerungen verankerte Ereignise – aber jede/r, der/die alt genug ist, diese Zeiten bewusst miterlebt zu haben, verknüpft damit andere Erlebnisse und Emotionen.
Die Schauspieler spielten mit Textkarten in der Hand, was nicht die Idealvorstellung einer Theaterstücks ist, wie Regisseurin Luzia Platt erläuterte, aber unvermeidlich war. Die Vorbereitungszeit war kurz, die Akteure gehen Berufen nach und haben Familien, und nicht zuletzt ist das FAT mittendrin in der Vorbereitung des neuen Stückes „Schiff ahoi“. Das wird im November auf die Bühne kommen, und das ist nicht mehr lange hin. Die Zuhörer in der gut gefüllten Kulturscheune durften die einzelnen Mitwirkenden mit Einzelapplaus würdigen. Dabei waren auch als Debütant auf der FAT-Bühne Maximilian Sonner, der sich vom Pult aus mit Klingelton einige Male mit Anmerkungen einbrachte, sowie Lukas Platt. Christian Kunesch vom Kulturamt der Stadt erhielt von der Regisseurin ein Sonderlob: er zeichnete für die Technik verantwortlich und baute auch noch die Bestuhlung auf.
Bemerkenswert und eigentlich etwas schade ist es auch, dass der ganze Schreib- und Probenaufwand für diese eine Aufführung des Stücks betrieben wurde. Geht aber nicht anders, "Schiff ahoi" drängt.
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