Umstrittene Namensgebung im Neubaugebiet

Stadtverordnetenversammlung: Energische Diskussion über die Eignung Otto von Bismarcks als Namensgeber

So wird die Straßennamensgebung in Hattersheim-Süd künftig aussehen.

Neue Straßen brauchen neue Namen. Das gilt auch für das Areal, das der Bebauungsplan "Vordere Voltastraße" im Süden der Stadt umfasst. Der Magistrat hat sich hierzu Gedanken gemacht und zur letzten Stadtverordnetenversammlung dem Parlament eine entsprechende Beschlussvorlage präsentiert.

Demnach stellt der Magistrat fest, dass das Gebiet Hattersheim-Süd im Westen geprägt ist von seiner Industriegeschichte. Hierzu seien insbesondere die Taunuseisenbahn, das Wasserwerk und die Lebensmittelindustrie zu zählen. "Hattersheims industrielle Entwicklung hing entscheidend von der Lage an der Taunuseisenbahn ab und gewann durch die Fertigstellung des Bahnhofs Hattersheim während der Industrialisierung an Dynamik. Der Güterbahnhof war auf der Strecke zwischen Frankfurt und Wiesbaden bis in die 1960er Jahre der größte. Verantwortlich dafür waren unter anderem die Papierfabrik Phrix in Okriftel und die Schokoladenfabrik Sarotti in Hattersheim am Main", so die weiteren Ausführungen in der Antragsbegründung.

Vor diesem Hintergrund wurde bereits die Straße von der Voltastraße zum Nahversorgungszentrum Hattersheim-Süd „An der Taunuseisenbahn“ genannt. Und da es sich bei der Haupterschließung des Neubaugebietes um eine Verlängerung dieser Straße handelt, soll diese auch ihren Namen weiterführen.

Auch die Erschließungsansätze, die aus dem Baugebiet "Schokoladenfabrik" an die "Vordere Voltastraße" angrenzen, sollen namentlich fortgeführt werden, als da wären die Straße "An der Zuckerfabrik" sowie die "Paul-Tiede-Straße".

Für den südlichen Teil des neuen Baugebiets hat man den Wasserwerkswald als prägendes Element ausgemacht. Deshalb soll die Mittelachse, welche die südlichen Baufelder erschließt, mit ihren in südliche Richtung abknickenden Fortführungen und Feinerschließungen die Bezeichnung „Am Wasserwerkswald“ erhalten, heißt es in der Begründung des Magistrats weiter.

Und die Ringerschließung im nordwestlichen Plangebiet soll schließlich in Zukunft als "Bismarckring" bekannt sein. Mit dieser Namensgebung will man den historischen Bezug zur Epoche der Industrialisierung herstellen, die der erste deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck unter anderem durch seine fortschrittlichen sozialen Reformen für die Arbeiterschaft mitgeprägt habe.

Kontroverse um den Reichkanzler

Ohne Widerworte hingenommen wurden im Parlament erwartungsgemäß die Straßennamen, die nicht nach berühmten Persönlichkeiten benannt werden sollen - weder im Ausschuss Umwelt, Bauen und Verkehr (UBV), noch in der Stadtverordnetenversammlung echauffierte sich jemand über die Taunuseisenbahn, die Zuckerfabrik oder den Wasserwerkswald.

Bei den Personen bestand jedoch Redebedarf. Im Ausschuss UBV wurde noch vor allem gemeinschaftlich erörtert, wer genau der namensgebende Paul Tiede überhaupt war. Manch ein Ausschussmitglied zuckte bei der vorherigen Online-Recherche kurz zusammen, ist doch der einzige Paul Tiede mit eigenem Eintrag auf Wikipedia ein deutscher General der Infanterie, der im Ersten Weltkrieg diente und sich abseits seiner militärischen Karriere nirgendwo sonst einen Namen machen konnte. Die Hattersheimer Straße bezieht sich jedoch auf einen vermögenden Berliner Kaufmann, der am 16. Juni 1883 als Teilhaber in die beiden Firmen des Hugo Hoffmann eintrat. Die Betriebe wurden daraufhin in offene Handelsgesellschaften umgewandelt, der Produktionsbetrieb wurde in "Hoffmann und Tiede" umbenannt, das Handelsgeschäft behielt den Namen "Felix und Sarotti". Tiede investierte 1883 eigenes Kapital in Hoffmanns Firmen, übernahm die kaufmännische Leitung und sicherte somit die Weiterentwicklung der Betriebe. Eine Vita, die auf Anhieb keinen Stoff für Kontroversen bietet.

Das lässt sich über Otto von Bismarck hingegen kaum sagen, und deshalb mündete die Aussprache zur Magistratsvorlage während der jüngsten Stadtverordnetenversammlung am 20. Oktober auch in eine hitzige Debatte. Der Grünen-Stadtverordnete Alessio Dale zeigte sich zunächst verwundert darüber, dass der angedachte "Bismarckring" allein schon vom Ansatz der Namenswahl in diesem Gebiet auffällig aus der Reihe tanzt, besteht doch bei allen anderen dortigen Straßennamen ein direkter Kontext zur Stadtgeschichte. Bismarck habe Dale zufolge keinen wirklichen Bezug zu Hattersheim, und zu allem Überfluss handele es sich bei ihm auch noch um einen "höchst kontroversen Charakter". Zu den größten Errungenschaften Bismarcks zählt zweifellos die Einigung der deutschen Kleinstaaten zum Deutschen Kaiserreich. "Dadurch wurde der Weg geebnet zur Bundesrepublik Deutschland, einer friedlich-liberalen Demokratie im Herzen Europas", räumte Dale ein. Und auch Bismarcks Sozialreformen seien bis heute ein "Grundbaustein für die soziale Marktwirtschaft". Doch der "große Staatsmann", so Dale, sei wahrlich kein lupenreiner Demokrat gewesen. Er führte Kriege gegen Österreich und Frankreich, und der danach folgende Frieden sowie der Erhalt seiner Macht beruhten nicht auf Respekt, sondern auf Angst. Nach außen schaffte er es, Deutschland zu einen - die Gesellschaft hingegen spaltete er, stellte Alessio Dale kritisch fest: "Er trennt Staat und Kirche in einem Kulturkampf gegen die Zentrumspartei und erlässt gleichzeitig das Sozialistengesetz, das gegen die demokratische Arbeit von Sozialdemokraten, Sozialisten und Kommunisten gerichtet war. Ebenso lehnte er die bürgerlich-liberalen Märzrevolutionen von 1848 und 1849 ab. Bismarck zufolge sei der Herrschaftsanspruch der absolutistischen Herrscher gottgegeben und nicht anzufechten. Und seiner Ansicht nach wurden große Fragen der Zeit nicht durch Reden oder Justizbeschlüsse entschieden, sondern durch Eisen und Blut.

Angesichts dieser Charakterisierung hält es Dale für unangebracht, heutzutage eine Straße nach einem solchen "Militaristen und Absolutisten" zu benennen. So wäre es doch schöner, einen Namen zu finden, der sich stadtgeschichtlich mehr anbietet - Dale brachte hier den Namen "Poststraße" ins Spiel. Deshalb beantragte er gemäß Paragraf 46 der Geschäftsordnung der Stadtverordnetenversammlung eine Abweichung der Verfahrensweise und bat darum, über die Vorlage an diesem Abend nicht abzustimmen und diese in der nächsten Sitzung des Ausschusses UBV zu beraten. Dieser Antrag wurde bei Zustimmung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen und Ablehnung von CDU und FDP sowie Enthaltung von FW und der Stadtverordneten Corinna Abel (Die PARTEI) mehrheitlich abgelehnt.

Welche Maßstäbe sind angebracht?

Damit war der Tagesordnungspunkt freilich noch nicht abgehakt, aus dem Parlament heraus bestand noch in hohem Maße Redebedarf nach dieser klaren Stellungnahme gegen den "Bismarckring". Auch der Stadtverordnete Dirk Staudt hält den Reichskanzler als Namensgeber für unangebracht. Als Folge der in der Antragsbegründung lobend erwähnten Sozialreformen erließ Bismarck eben auch jene Sozialistengesetze, die zum Verbot der Arbeit sozialdemokratischer Vereine führte. Und auch Bismarcks anfängliche Ablehnung deutscher Kolonien wich im Laufe der Zeit einer sehr aktiven, auch militärischen Unterstützung der Kolonialisten in Afrika, die schließlich in der Kongo-Konferenz in Berlin gipfelte, wo der kolonialrechtliche Einflussbereich in Afrika ebenso definiert wurde wie dortige Grenzen. "Für eine Versammlung wie unsere hier heute Abend, die eines kommunalen Parlaments, hätte Bismarck nur Spott und Verachtung übrig gehabt. Er war überzeugter Monarchist, Antidemokrat und Gegner der Parlamente", so Staudt. Und entsprechend untragbar sei er deshalb als Namensgeber für eine Straße.

Bürgermeister Klaus Schindling lobte die Recherchearbeit der vorherigen Redner und bestätigte den Wahrheitsgehalt der an diesem Abend vorgebrachten Kritikpunkte aus Bismarcks Biographie. Unpassend fand es Schindling jedoch, die Äußerungen eines Otto von Bismarck aus der damaligen Zeit in die heutige zu transferieren. Man müsse die historische Bedeutung der Persönlichkeiten im Kontext ihrer Zeit sehen und könne Zitate von "Blut und Eisen" nicht sinngemäß eins zu eins in die heutige Zeit transferieren und dann nach heutigen Maßstäben bewerten. Bismarck sei ein Staatsmann gewesen, der aus heutiger Betrachtung häufiger auch Entscheidungen traf, die man aktuell so nicht mehr treffen würde, so Schindling, die aber in der damaligen Zeit durchaus nachvollziehbar waren. Und man könne die historische Person Bismarck durchaus als bedeutsame Person im Bereich der Industrialisierung in einem Straßennamen vorkommen lassen, ohne, dass man sich dessen schämen müsse.

Alessio Dale nahm direkt Bezug auf Schindlings Verweis auf den Kontext der damaligen Zeit: Auch zu Bismarcks Zeiten und davor gab es schon Parlamente. "Er hat sie aber einfach nur zensiert. Das ist das Problem an der Sache."

Der CDU-Fraktionsvorsitzende Michael Minnert machte keinen Hehl aus der Ambivalenz der Person Bismarck. Auf der einen Seite unterdrückte er politische Gegner, andererseits führte er die modernsten Sozialgesetze seiner Zeit ein. Manche sehen ihn als antidemokratischen Machtpolitiker, als "Sozialistenfresser" - andere wiederum primär als großen Staatsmann. Ein übereinstimmendes Urteil haben die Historiker bis heute allerdings noch nicht gefällt, eine Verurteilung Bismarcks nach heutigen Maßstäben könne allein deshalb schon nicht so einfach sein. Die staatliche Entwicklung Deutschlands wurde von ihm entscheidend vorangetrieben und beeinflusst. Die Christdemokraten sehen in Sachen Otto von Bismarck keinen "unüberwindbaren Hintergrund", der gegen die "Benennung einer vergleichsweise kleinen Straße in unserem schönen Hattersheim" nach ihm sprechen würde.

Kolja Franssen (SPD) hingegen findet es geradezu "beschämend", dass man in Hattersheim ernsthaft neue Straßen nach "höchst umstrittenen Personen" benennen will, während sich in Deutschland viele Städte und Kommunen gerade kritisch mit Namensgebern auseinandersetzen und Straßen gegebenenfalls sogar umbenennen.

Der Erste Stadtrat Karl Heinz Spengler von den Freien Wählern stellte fest, dass Bismarck eine Persönlichkeit sei, die man "weder glorifizieren, noch dämonisieren" solle. Für ihn als Freien Wähler wandere bei diesem Thema immer wieder der Blick zu den Beschlüssen in der Paulskirche von 1848. "Da war damals eigentlich schon angedacht, das Deutsche Reich auf demokratische Art und Weise zu einen", so Spengler, und die damaligen Beschlüsse seien noch heute Grundlage der demokratischen Aktivitäten in Deutschland.

Bei der folgenden Abstimmung wollten die Freien Wähler dann Bismarck tatsächlich weder ehren, noch verdammen: Sie enthielten sich. Die CDU sowie der FDP-Stadtverordnete Dietrich Muth stimmten für die Vorlage, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Corinna Abel (Die PARTEI) stimmten dagegen, Norbert Reichert von der FDP enthielt sich ebenfalls. Damit wurde die Vorlage mehrheitlich angenommen, Hattersheim wird somit einen "Bismarckring" erhalten - nach einer parlamentarischen Debatte, die bezüglich der Vita des Otto von Bismarck eigentlich nur von Kritik, Beschwichtigungen und Relativierungen geprägt war, und nur relativ wenig von Lob und Anerkennung, die man im Kontext zu einer solchen Ehrerbietung eigentlich erwarten sollte.

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