Leserbrief Lust auf holländische Verhältnisse im Main-Taunus-Kreis?

Zwei Hattersheimer ADFC-Mitglieder berichten: Mehr als 1.000 Kilometer durchgängig geschützte Radwege

Ein "Backfiets" (Lastenfahrrad) unterwegs in Holland.

Wir waren mal wieder abgetaucht zum Radfahren in Holland. Immer wieder treibt es uns zu diesen Radlererlebnisreisen zu den holländischen Nachbarn. Uns reichen die wenigen sicheren Radwege im Main-Taunus-Kreis nicht aus. Dieses Mal sind wir an der Nordseeküste.

Von Katwijk an der Nordsee sind es nur 30 km bis nach Haarlem, nach Delft oder Den Haag. Durch die Dünen im wunderschönen Naturschutzgebiet an der Nordsee führen seit Jahrzehnten breite, glatt asphaltierte Radwege zu den Großstädten. Regelmäßige Wartungen sind hier selbstverständlich, nutzen doch Radfahrer*innen diese Strecken sowohl zum Training ihrer Spitzensportler*innen als auch für ihre Fahrten ins Büro, zum Einkaufen oder für Spazierfahrten. Sobald die Dünenlandschaft durchfahren ist und städtisches Gebiet erreicht wird, tauchen überall die roten Verkehrsverbindungen für die Radfahrer*innen parallel zu den Straßen auf. Selbst im Kreisverkehr haben Radelnde ihren eigenen roten Weg, getrennt von den Autos. Und die Schwächeren haben Vorfahrt, wie auf unseren Zebrastreifen, die letzte Errungenschaft der politischen Fürsorge für uns Menschen in Deutschland. Ein eigenes Ampelsystem für Radler*innen gibt zusätzliche Sicherheit und ermöglicht auch Menschen mit dem Fahrrad ein schnelles Durchkommen.

Radfahrer*innen fahren parallel zu den Wegen, die die Autos über die Straßen oder Autobahnen nehmen; Abkürzungen durch Wälder, Parks, kleinere Straßen, Unterführungen, Brücken, aber nie Umwege, wie wir das vom Main-Taunus-Kreis kennen. Selbst an Baustellen wird der Radelnde geschützt auf den nächstliegenden Weg gebracht oder es gibt Ausweichmöglichkeiten parallel zur Baustellenstrecke. Hier fallen uns die Strecken im Main-Taunus-Kreis ein, die den Radfahrern genommen wurden, ohne dass überhaupt eine Umleitung eingerichtet worden ist, so zum Beispiel der Radweg über die A 3 bzw. die Frankfurter S-Bahn-Strecke, die längst wieder hergestellt sein sollte. Die vielen Schreiben an die politisch Zuständigen werden hier in der Rhein-Main-Region bzw. bei Hessen Mobil einfach ausgesessen. Seit Jahrzehnten hieven die Radler*innen ihre „Fahrzeuge“ über die Staustufe in Hattersheim-Eddersheim – undenkbar für die Niederländer*innen, die überall, wo es nötig ist, Übergänge über die zahlreichen Grachten oder Unterführungen unter dem Schienenverkehr haben.

Wir fahren deshalb auch regelmäßig nach Holland, sind hier erfahren und staunen jedes Mal - wie jetzt auch wieder - wie fürsorglich die Politik in diesem Land für die schwächsten Verkehrsteilnehmer*innen gesorgt hat. Sind die Menschen hier mehr wert als bei uns?

In unmittelbarer Nähe des bekannten Tulpenhofs (Keukenhof) ist die Straße für den schützenden Umbau knapp gewesen, aber die Stadtoberen haben sich - wie an anderen Orten auch - für eine neue Aufteilung der Straße entschieden: Die Schwächsten bekommen den meisten Platz. Sich begegnende Autofahrer*innen müssen auf diesen sehr engen Straßen warten, bis der Radfahrer ein Passieren ermöglicht. Dadurch verlangsamt sich der Verkehr automatisch. „Radfahrer sind wie Kinder – nämlich die Verletzlichsten im Straßenverkehr“, hören wir immer wieder. Außerdem haben alle - egal, ob groß oder klein - beim Radeln zur Schule oder zur Arbeit Bewegungsmöglichkeiten, die sie bei einer Auto- oder Busfahrt nicht haben, quasi eine kostenlose, gesundheitsfördernde Sportstunde mehr. Hinzu kommt, dass holländische Kinder von Klein an lernen, wie der Straßenverkehr funktioniert. Sobald sie sitzen können, fahren sie mit ihren Eltern Rad. Oft sieht man Mütter mit dem kleinen Kind vorn und dem Älteren hinten oder im Backfiets werden bis zu drei Kinder transportiert. Sobald sie können, fahren sie selbst und das mit großem Selbstbewusstsein. Viele fahren im Alter von circa sieben, acht Jahren allein. Die lange Erfahrung, sich selbstständig im fließenden Verkehr zu bewegen, macht die kleinen sehr früh zu selbstständigen Radlern. Der holländische Staat wacht aber trotzdem über seine kleinen Bürger*innen: Während bei uns der Schwerpunkt der Verkehrserziehung ein ziemlich einmaliger Akt in der 4. Klasse ist, begleitet die Verkehrserziehung die holländischen Kinder über die gesamte Schulzeit.

Unsere Gespräche unterwegs auf Hollands Straßen sind spannend. Bei unseren Berichten zu den Elterntaxen im Rhein-Main-Gebiet, die gehende oder radfahrende Kinder vor unseren Schulen gefährden, schütteln die Menschen hier verständnislos den Kopf. In Holland bewältigen die meisten Kinder den Schulweg mit dem Rad oder gehen zu Fuß.

Gut, dass unsere niederländischen Nachbarn so gut Deutsch sprechen und wir uns über verschiedene Aspekte austauschen können. Wir sollten sie zur politischen Willensbildung für ein Radwegesystem bei Diskussionen - wie in der oben dargestellten – einbinden. Gemeinschaft, Gesundheit, Naturschutz, Klima – alles haben unsere europäischen Nachbarn bereits erforscht. Statt immer neue Studien wie im MTK für die Schublade zu erstellen, müssen wir nur über den nächsten europäischen Zaun blicken. Eine Partnerschaft zur Beratung wäre nicht schlecht – schließlich wollen wir auch in Europa eine Gemeinschaft sein, und Nachbarn helfen sich bekanntlich gerne! Gefühlt 50 Prozent weniger Menschen fahren hier mit dem Auto. Überquert man eine Straße, wartet man die vielen vorbeifahrenden Radfahrer*innen ab – nicht die Autos. Nur die Hauptverbindungen haben auch Feierabendverkehr, aber die anderen Straßen der Wohnviertel sind fast leer. Und – es wird viel gelacht auf den Radwegen, weil auch Tandems mit Kindern, Rikschas und Lastenräder mit Kleinkindern unterwegs sind. Menschen mit Behinderungen fahren ebenso selbstbewusst in ihren exklusiven Rollstühlen, sind selbstständig - ganz inklusiv.

Zusätzlich zu den 4.700 km offiziellen geschützten Radwegen sind überwiegend in Wohngebieten Fahrradstraßen eingerichtet: Da parkt kein einziges Auto und diese Straße bietet den Autofahrern einen „Gastplatz“. Der Holländer parkt sein Auto dort, wo viele Deutsche ihren Rasenmäher oder unbrauchbares Gerümpel parken: In der Garage, auf seinem Grundstück oder auf einem der kleinen Parkplätze, ein paar Schritte von seiner Wohnung entfernt. Kleine Parkplätze finden sich zwischen den Wohnanlagen. Das bringt Platz für Menschen.

Ja, es ist richtig: Radfahrer*innen in Holland fahren schnell; schließlich haben auch sie Geschäfte zu erledigen, Termine einzuhalten. Deshalb sind oft Radelnde mit Schlips oder Frauen mit hohen Pumps unterwegs. Für Fußgänger*innen sind diese schnell fahrenden Räder kein Problem. Auch sie und ihre Bedürfnisse hat die holländische Politik bei ihren Verkehrsplanungen im Auge gehabt. Sie haben in diesem kleinen Land, das viele Quadratmeter dem Meer mühsam abgerungen hat, ihre eigenen geschützten Wege für Einkäufe oder Spaziergänge mit ihren Kindern. Erstaunlich viele Supermärkte finden sich in den Innenstädten ohne Parkplatz, weil der Holländer läuft oder mit dem Rad unterwegs ist.

Birgid Oertel und Volker Igstadt

ADFC Hattersheim

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