Gedanken zum Steg

 
Der Steg ist marode. Eine Reparatur übersteigt die finanziellen Möglichkeiten der Gemeinde. Der Steg soll zurückgebaut, d.h. abgerissen werden.
So oder so ähnlich konnte man es in den vergangenen Wochen in der Zeitung lesen. Mir als altem Bischofsheimer (Jahrgang 1936) fiel dabei ein, dass der Steg mehr ist als eine Kostenstelle im Haushalt der Gemeinde Bischofsheim. Ich möchte nicht auf die Frage eingehen, warum denn die Situation so ist, wie sie sich im Moment darstellt. Ich möchte den Bischofsheimer Bürgern einmal in Erinnerung rufen, was der Steg in der Vergangenheit noch war, außer einem Übergang zum Bahngelände und zur Siedlung.

 

Am 8. Mai 1945 war der Krieg zu Ende und es gab fast keine Familie in Deutschland, in der nicht der Vater, der Bruder, der Schwiegersohn, Onkel, Schwager oder andere Angehörige gefallen, gestorben, verschollen, verschleppt oder geflüchtet war. Im September 1945 wurden immer noch die von Deutschland verschleppten Zwangsarbeiter in Personenwagen in ihre Heimatländer zurückgefahren, deutsche Kriegsgefangene von Nord nach Süd und von Ost nach West, in oftmals offenen Güterwagen tagelang ohne Essen und Trinken, in Kriegsgefangenenlager in ganz Europa gebracht, und es waren Tausende von Menschen immer noch auf der Flucht.
Der Bischofsheimer Bahnhof war als Drehscheibe des Bahnverkehrs in dieser Nachkriegszeit von großer Bedeutung. Hier wechselte das Zug- und Lokpersonal der ankommenden Züge, die Züge wurden neu zusammengestellt und hatten hier ihre Wartezeiten. Aus diesem Grunde war das gesamte Bahngebiet für alle Zivilpersonen, die keine Bahnbediensteten oder Soldaten waren, Sperrgebiet. Außerdem gab es nach dem Kriegsende Ausgangssperre vom Abend bis zum Morgen. Bürger, die in dieser Zeit unterwegs waren, mussten von der Militärbehörde eine Berechtigungsschein vorweisen können, sonst wurden sie verhaftet. In der Mitte war oben auf dem Steg eine Maschinengewehrstellung von US-Soldaten errichtet worden.
Mit ihrem MG konnten sie vom Personenbahnhof bis zum Stellwerk-Mitte das gesamte Gelände überschauen und kontrollieren. Es war lebensgefährlich, sich unberechtigt im Bahngelände zu bewegen, denn die Soldaten schossen auf alles, was sich bewegte. Seit Juli oder August, ich war neun Jahre alt, wurde in unserer Wohnung Am Alten Gerauer Weg 6, täglich in der Waschküche im Waschkessel von meiner Mutter und anderen Frauen Suppe gekocht, die in Töpfen an die Züge mit den deutschen Soldaten gebracht wurde.
Wir Kinder waren ein ganz wichtiger Teil der Versorgung, denn auf uns wurde von den US-Soldaten nicht geschossen, und wenn Essen zu verteilen war, konnten wir bis an die Züge kommen. Im September stand wieder ein Zug mit deutschen Soldaten im Bahnhof. Die Bewacher der Transporte waren in der Regel US-Soldaten oder/und freigelassene polnische oder russische Zwangsarbeiter, die mit Gewehren um die Züge patrouillierten und aufpassten, dass niemand aus dem Zug fliehen konnte oder dass niemand dem Zug zu nahe kam.
Die Soldaten in den offenen Wagen riefen, dass sie Hunger und Durst hätten und wir Kinder liefen schnell nach Hause, um den „Suppen-Frauen“ Bescheid zu geben. Einige Frauen gingen mit Töpfen und Kannen durch die Wilhelmstraße, an der Güterabfertigung vorbei zum alten Personenbahnhof. Dort angekommen, ließen die Bewacher aber keinen Erwachsenen an den Zug und wir Kinder waren mit der Essensausgabe überfordert. Als alles Jammern und Tränen auch nichts halfen, kam jemand auf die Idee, das Essen und Trinken vom Steg mit einem Seil in die Waggons herunter zu lassen. Dies wurde dann auch so getan.
Von diesem Tag an konnten wir Kinder zwischen den Gleisen und die Erwachsenen das Essen und Trinken vom Steg zu den Soldaten bringen. Nostalgisch betrachtet, war der Steg also über Monate hinweg ein wichtiger Teil der Nachkriegsversorgung unserer gefangenen Soldaten. Es wäre für mich und bestimmt auch für viele alte Bischofsheimer ein großer Verlust, wenn es nicht zur Erhaltung dieses Bauwerkes käme.
Dies fiel mir wieder ein, als ich jetzt vom Steg in der Zeitung las.
Karl-Heinz Plahuta
Friedrichstraße 26, Bischofsheim
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