Wenn die mit den Stiefeln so schreien Holocaust-Gedenktag 2020: Ein Buch als Vermächtnis für ein Kind, das der Hölle entkommen konnte

Überleben in Zeiten des Holocaust: Zwei extreme Rollen in einer Person vereinigt und ergreifend in Szene gesetzt.

Holocaust-Gedenktag 2020: Ein Buch als Vermächtnis für ein Kind, das der Hölle entkommen konnte

Zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust präsentierte die Stadt Flörsheim am Main am Samstag, 25. Januar 2020, um 17 Uhr in der Kulturscheune das Theaterstück „Wenn du einmal groß bist“ des Münchner Figurentheaters Pantaleon. Anlässlich des Gedenkens hatte die Stadt Flörsheim zusätzlich zur kreativen Bildbetrachtung in das Kunst-Café der Stadtbücherei eingeladen.

Zum Gedenktag und zur Veranstaltung richtete Bürgermeister Dr. Bernd Blisch seine Begrüßungsworte an die Gäste, die in die Kulturscheune gekommen waren. Er betonte den Ernst der Sache, die in der heutigen Zeit an Aktualität nichts vermissen lässt.

Die Grundlage zum Theaterstück bildet das Buch „Für Tommy zu seinem dritten Geburtstag in Theresienstadt“. Bedrich Fritta, ein tschechischer Graphiker und Karikaturist, der als Jude zusammen mit seiner Frau und seinem Sohn Tomas seit 1941 im Ghetto Theresienstadt inhaftiert war, gestaltete es zum dritten Geburtstag seines Sohnes. Vielleicht in dem Bewusstsein des nahen eigenen Todes. Es ist aber auch das Zeugnis eines ungebrochenen Optimismus, voller Vertrauen darauf, dass die Menschlichkeit siegen und die Welt wieder frei und voll unendlicher Möglichkeiten sein wird. „Bedudu“, so nennt ihn sein Sohn Tommy, ist ein wundervoller Vater, der die Schönheit der „Welt da draußen“, hinter den Mauern, in bunten Farben beschreibt. Mit Hilfe von Bildern und Geschichten soll sein Sohn die Tristesse des maßlos überfüllten Ghettos besser ertragen, doch das wird Bedrich Fritta schließlich zum Verhängnis. Dem Kind indes macht er Mut: "Wenn du einmal groß bist, kannst du alles werden. Alles, nur nicht General!“

Kinderbuch und Malerverschwörung

Ein Buch als einziges Zeugnis von Eltern für ihr Kind, das später der Hölle entkommen konnte, traumatisiert, gequält von dem Geräusch von Schlüsselbunden und der Angst vor Hunden, ein Kind, das als Erwachsener nirgendwo wirklich heimisch werden konnte und sich in seinem Leben überall ein wenig schlecht fühlt.

Bedrich Fritta, interniert in Theresienstadt am 24.11.1941, wenig später folgen seine Frau Johanna und sein Sohn Tommy. Er lebt mit ihnen zusammen in einem Raum im zweiten Stock der Magdeburger Kaserne. Fritta arbeitet mit anderen Künstlern, so auch mit Leo Haas, in der Zeichenstube. Ihre Aufgaben sind das Entwerfen von Skizzen für technische Anlagen, aber auch das Anfertigen von Portraits von SS-Männern nach Fotografien sowie das Erstellen einer geschönten Fassade des Lagers. Fritta und die anderen Künstler nutzen allerdings das Zeichenmaterial, um Bilder anzufertigen, die den wahren, grausamen und düsteren Alltag der Insassen dokumentieren. Besonders Fritta zeichnet als Mitglied der „Malerverschwörung“ sehr drastische Motive. Wegen der perfiden Umdeutung des zauberhaften Büchleins des Vaters für den kleinen Sohn durch die Ideologie des NS-Regimes werden die Künstler in den Kellerräumen der Gestapo an Hand von drei Zeichnungen verhört, gefoltert und schließlich nach Auschwitz deportiert. Dort stirbt Fritta.

Frittas Sohn Tommy, geboren 1941, ein freundliches und intelligentes Kind, das alle gernhaben und das, am vergitterten Fenster sitzend und mit den Beinchen baumelnd, der Sonne entgegen lächelt, weil sie ihn so schön bestrahlt. Der dreijährige Tommy wird mit seiner Mutter nach der Verhaftung des Vaters von diesem getrennt, er gilt als politischer Gefangener. 1945 stirbt seine Mutter im Gestapo-Gefängnis.

Beklemmende Sprachlosigkeit

Alexander Baginski ist ein begnadeter Puppen- und Schauspieler, Figurenbauer, Bühnenbildner und Texteschreiber. Mit seiner Fähigkeit, die richtige Sprache, Sprechweise, den Ton zu treffen, gelingt ihm die tiefschürfende Dramatisierung. Die reduzierte Handlung, die akzentuierte musikalische Begleitung und der minimale Einsatz der Bühnenmittel – die extremen Rollen in einer Person vereinigt und auf der kleinen Bühne, unmittelbar vor den Zuschauern, ergreifend in Szene gesetzt. Diese Idee, das Leben in Zeiten des Holocaust mit Puppen umzusetzen, ist genial. Eine künstlerische Leistung, die eine düstere Zeit lebendig werden lässt und eine sehr beklemmende Wirkung erzielt.

„Mein Ziel ist es, mit diesem Stück in die Schulen zu gehen, um den jungen Leuten dieses unfassbare Geschehen nahe zu bringen, damit so etwas nie wieder passiert“, beteuerte Baginski nach der Vorstellung, „es ist immens wichtig, persönliche Einzelschicksale zu erzählen, die über die bloßen Zahlen der Opfer hinausgehen“.

Was bleibt, ist die Sprachlosigkeit derer, die dieses Theaterstück in der Flörsheimer Kulturscheune erleben durften.

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