Auf ein Wort Die Fülle der Not

Liebe Leserinnen, liebe Leser!

Die Fülle der Not

Liebe Leserinnen, liebe Leser!

Es war, der Legende nach, im Jahre 1775 als im Weinbau das Unglück ein Glück gebar. Die Rheingauer Weingüter bedurften damals der Erlaubnis ihrer Gemeinden, um mit der Weinlese zu beginnen. Nur die Mönche vom Johannesberg mussten ihre Erlaubnis direkt vom Fuldaer Fürstbischof Heinrich von Bibra einholen. Ein Bote mit einer reifen Rebe in der Tasche wurde also losgeschickt, um den Bischof vom gekommenen Zeitpunkt zu überzeugen und mit seiner Erlaubnis zur Lese schnellstmöglich zurückzukehren. Was genau auf dem Wege geschah, bleibt bis heute der Volksspekulation überlassen. Jedenfalls verspätete sich der Bote und kehrte nicht zurück. Ohne die Erlaubnis des Bischofs konnte die Lese nicht beginnen und die Reben begannen zu faulen. Voll Trauer und Verzagtheit mussten die Mönche betrachten, wie die ganze Ernte verdarb, während alle Weingüter der Nachbarschaft glücklich ihre Fässer füllten. Als der Bote schließlich eintraf, war die Frucht bereits hinüber und die Ernte scheinbar verloren. Aus schierer Verzweiflung brachte man dennoch die Trauben ein und kelterte sie.

Den Winter über schlief der scheinbar faule Saft aber den Schlaf der Gerechten. Und als die Mönche im Frühjahr hoffnungsarm den jungen Wein verkosteten, lief ein kleines Wunder ihren Gaumen hinab. Von ungeahnter Süße und Qualität, stellte sich ihnen jene neue Gabe dar, die wir heute als kostbare Spätlese etikettieren.

Gleiches scheinbare Erntepech hat uns auch den guten Eiswein beschert, jenen likörhaft süßen Edelwein, der heute zu den teuersten gehört. Die Winzer in Bingen hatten wohl im Jahr 1829 einige Reben stehen gelassen, weil die Qualität der Trauben so schlecht war, dass die Lese sich nicht lohnte. Erst als man die durchgefrorenen Trauben im Winter als Viehfutter erntete, erkannte man, dass sich darin eine Süße verbarg, die zuvor keine reife Traube produziert hatte. Die Reben wurden gekeltert und der Eiswein war geboren.

Viele unserer kulinarischen Freuden sind so im Laufe der Geschichte aus der Not entstanden. So hat zum Beispiel die hochgepriesene französische Haute Cuisine, die gehobene Küche der Franzosen, ihren Ursprung in der Armut der großen Klöster Frankreichs. Denn die monastischen Köche fanden sich in der schwierigen Lage, dieselben Mönche ein gesamtes Leben lang mit den exakt selben Zutaten bekochen zu müssen, nämlich mit jenen Gütern, die der eigene Klostergarten oder Wald hervorbrachte. Aus der Not erwuchs die Kreativität und damit die Vielfalt und Raffinesse der französischen Küche.

Ebenso aus der Not, ist die reiche Vielfalt des schottischen Whiskys entstanden, dem wertvollen Single Malt Scotch, dessen Jahrzehnte alte Flaschen heute in den großen Auktionshäusern zum Teil für hunderttausende verkauft werden. Der Whisky wurde vorerst als Medizin gebrannt. Ein einfacher Getreidebrand von wenig mehr Geschmack als ein herber Vodka. Und weil es in Schottland viel Heide und wenig Wald gibt, waren Holzfässer zum Lagern des Getränks Mangelware. Aus der Not heraus benutze man also alte, schon einmal gebrauchte Fässer, die in den Häfen als Abfall herumstanden. Alte Wein-, Sherry- und später Buorbonfässer. Und siehe da, nach langer Lagerung und Reife in diesen Fässern, hatte sich aus dem medizinischen Getreidebrand ein reiches und vollmundiges Getränk ergeben, dessen Eigenschaften nun das Herz erwärmten.

Es gibt unendlich viele dieser Beispiele in der Geschichte der Menschheit. Momente, in denen ein scheinbares Unglück am Ende ein völlig unerwartetes Glück gebiert. Momente, in denen die Armut die Kreativität beflügelt. Momente in denen aus quantitativer Not, ein qualitativer Reichtum entsteht. Momente, in denen wir beschenkt sind, indem uns etwas genommen ist. Momente, in denen uns die Not eine Fülle beschert.

In dieser Jahreszeit und kurz nach dem Erntedanksonntag musste ich vor allem an die kulinarischen Beispiele denken, an die Früchte der Erde und der Menschen Hände. Es ließe sich aber auch leicht eine Reihe Beispiele aus anderen Kontexten und Situationen finden. Momente, in denen eine große Not etwas unerwartet Positives hervorbringt.

Das Jahr 2020 ist noch nicht zu Ende. Wir steuern aber auf den Winter zu, der dieses Jahr als Corona-Jahr abrunden wird. Es wird in die Geschichtsbücher eingehen, als das Jahr der großen Pandemie. Es wird das Jahr sein, in dem die globalisierte, moderne und fortschrittliche Welt einmal zur allgemeinen Pause gezwungen wurde. Das Jahr in dem ausnahmsweise nicht der Mensch selber, durch Krieg, Misswirtschaft oder Herrschaftsformen der Welt eine Geisel auflegte, sondern ein Virus. Es wird auch als Jahr der großen Not in die Geschichtsbücher eingehen. Doch wie jede große Not, birgt auch die unsere eine noch unerwartete Frucht.

Was die Fülle, sozusagen der Edelwein oder die unerwartete Süße des Jahres 2020 ist, gilt es noch zu entdecken. Vielleicht ist es aber auch unsere Aufgabe, aus der Not der Zeit, die Fülle der unerwartet süßen Frucht noch zu schaffen…

Kaplan Nikolaus von Magnis

St. Gallus Flörsheim

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