Auch über der Sitzung der Hattersheimer Stadtverordnetenversammlung am vergangenen Donnerstag lag ein allgegenwärtiger Schatten, den man kaum zu verdrängen vermochte. In der vorangegangenen Nacht begann die russische Invasion in die Ukraine; seit 4 Uhr morgens rückte das russische Militär vor und nahm Ziele im unter Beschuss.
Stadtverordnetenvorsteher Günter Tannenberger sprach zu Beginn der Sitzung die schrecklichen Entwicklungen an: Das "kalte Grausen" bekomme man derzeit angesichts dessen, was man in der Zeitung liest, im Radio hört und im Fernsehen sieht. Es ist erschreckend, was derzeit um uns herum und natürlich insbesondere in der Ukraine passiert. Und auch die jüngsten Meldungen sind "schlimm, tragisch und bedauerlich", und diese werden nicht nur mit Schrecken, sondern auch mit großer Anteilnahme aufgenommen, auch von allen Verantwortlichen in den Regierungen vom Bund bis in die Kommunen hinein. Das Hattersheimer Stadtparlament erhob sich daraufhin zu einer Schweigeminute.
Streitthema "Vordere Voltastraße"
Die mit Abstand ausführlichsten Debatten wurden im Rahmen der jüngsten Stadtverordnetenversammlung rund um die Vorlagen des Magistrats bezüglich des Bauleitplanverfahrens Nr. N 100 "Vordere Voltastraße" geführt. Gleich drei einzelne Punkte standen hierzu auf den Tagesordnung.
Zum einen ging es um den Beschluss des vorgelegten Entwurfs des städtebaulichen Vertrages zwischen der Stadt Hattersheim am Main und den Vorhabenträgern Kleespies Projekt Main-Taunus GmbH sowie der Traumhaus AG. Hierin werden unter anderem die Themen Erschließungsmaßnahmen, Natur- und Artenschutz, der Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen, die Errichtung eines Nahwärmenetzes sowie einer Kindertagesstätte geregelt.
Dann ging es um einen weiteren städtebaulichen Vertrag zwischen der Stadt Hattersheim am Main und der NTT Global DataCenters FRA4 GmbH. Dort enthalten sind vertragliche Vereinbarungen zum Fassadenkonzept, der Bereitstellung von Abwärme, der Herstellung eines Fuß-und Radweges entlang der Voltastraße sowie um den Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen.
Und schließlich sollte die Stadtverordnetenversammlung über den Umgang mit den Stellungnahmen der Öffentlichkeit, der Behörden und Träger öffentlicher Belange sowie der Nachbarkommunen entscheiden und den Satzungsentwurf des Bebauungsplans Nr. N 100 „Vordere Voltastraße“ als Satzung beschließen - so die Vorlage des Magistrats.
Das besagte Areal wird im Norden durch die Voltastraße begrenzt. Im Osten grenzt das Plangebiet an das "Nahversorgungszentrum Hattersheim-Süd" und das Neubaugebiet "Schokoladenfabrik", im Westen an das Gewerbegebiet südlich der Voltastraße und den Graspfad. Jenseits des südlichen Rands verläuft der Wasserwerkswald.
Ziel des Bebauung ist die weitere städtebauliche Entwicklung des Geländes, das westlich von Nahversorgungszentrum und Schokoladenfabrik liegt. Man verspricht sich davon eine funktionale und gestalterische Ergänzung für den Stadtteil Hattersheim-Süd. Entlang der Voltastraße und in der Verlängerung zum Nahversorgungszentrum sollen weniger lärmempfindliche Nutzungen angesiedelt werden, zum Lärmschutz des dahinter liegenden Plangebietes und des Baugebietes "Schokoladenfabrik" vor der Geräuschkulisse, die sonst von den Bahngleisen und der Voltastraße herüberschallen würde.
In Ergänzung zum Baugebiet „Schokoladenfabrik“ soll dabei auch die Wohnbebauung "in Richtung Westen fortgesetzt werden und einen funktional städtebaulich angemessenen Lückenschluss zum angrenzenden Gewerbegebiet südlich der Voltastraße sicherstellen", heißt es in der entsprechenden Vorlage des Magistrats.
SPD fordert mehr öffentlich geförderten Wohnraum
Scharfe Kritik an den Plänen formulierte der SPD-Bürgermeisterkandidat Mesut Cetin. Angesichts der Tatsache, dass auf dem Areal 454 neue Wohneinheiten entstehen sollen und das Bauprojekt damit eines der größten in der Hattersheimer Geschichte darstellt, stellen die Sozialdemokraten enttäuscht fest, dass dort nicht eine einzige öffentlich geförderte Wohnung entstehen wird. "Wieso wurde dies bei der Erstellung des städtebaulichen Vertrags nicht berücksichtigt?", wunderte sich Cetin. Dieser wittert gar eine "Abwehr gegen öffentlich geförderten Wohnungsbau", denn die Planungshoheit liege bei dieser Entscheidung zunächst in den Händen der Stadt. Es wäre in seinen Augen ein Leichtes gewesen, hier einen verbindlichen Anteil von fünf bis zehn Prozent für öffentlich geförderten Wohnungsbau vorzugeben. "Der Bedarf ist gegeben, die Mietpreise steigen leider massiv an und wir sind der Meinung, dass wir hier gegensteuern müssen", beschrieb Cetin die Position der Hattersheimer SPD und richtete das Wort direkt an Bürgermeister Klaus Schindling: Dieser sage immer, dass es aus Fürsorgepflicht keinen öffentlich geförderten Wohnungsbau geben werde - aus Sicht von Cetin eine realitätsferner und sozial unverträglicher Standpunkt: An wen solle sich diese Fürsorgepflicht denn richten? Wem würde denn etwas weggenommen, wenn an der "Vorderen Voltastraße" auch 20 öffentlich geförderte Wohnungen entstehen würden? "Genau das Gegenteil ist der Fall", fuhr Cetin fort: "Wenn wir einige öffentlich geförderte Wohnungen vom Investor bauen lassen oder über die Hawobau selbst bauen, werden wir Menschen aus Hattersheim ein Zuhause bereiten." So könnte verhindert werden, dass die dort einziehenden Menschen nicht aus finanziellen Gründen angesichts zu hoher Wohnkosten ihr gewohntes Umfeld verlassen müssen. Cetin führte hierbei insbesondere hiesige Pflegerinnen und Pfleger, Erzieherinnen und Erzieher auf.
Bürgermeister Klaus Schindling erklärte, dass er nicht müde werde, die Beweggründe für seine Politik zu erläutern - und tat dies dann auch. Es gehe für eine Verwaltung um die Schaffung eines Gleichgewichts zwischen sozialpolitischer und ökonomisch weitblickender Fürsorge sowie ökologischer Balance. Gerade ein Blick in die jüngere Hattersheimer Vergangenheit zeige, wie schnell es passieren kann, dass durch die eigene Pleite die kommunale Selbstbestimmtheit auf dem Spiel steht und man unter den Schutzschirm muss. Und so etwas passiere dann, so Schindling, wenn man die Balance verliert zwischen den besagten Säulen des städtischen Zusammenlebens. Natürlich sei auch die sozialpolitische Fürsorge unbestritten eine dieser Säulen. Und das habe die Hattersheimer SPD in ihrer Regierungszeit auch "sehr gut gemacht", erkannte der amtierende Rathauschef an - ausdrücklich ohne Polemik. Denn man habe in Hattersheim nun die meisten öffentlich geförderten Wohnungen im gesamten Main-Taunus-Kreis. Und man habe auch kreisweit die meisten fürsorgebedürftigen Erwerbslosen in der Kommune. "Und es ist gut so, dass wir für diese Menschen Fürsorge treffen", betonte Schindling. Aber wenn man dieses Fürsorgepotenzial in selbstbestimmtem Wirtschaften erlangen will, dann muss man durch eine gesunde Balance auch an anderer Stelle dafür sorgen, dass man in der Stadtgesellschaft neben den Fürsorgebedürftigen auch Menschen habe, "die in den Topf etwas reinwerfen".
Nathalie Ferko, Fraktionsvorsitzende und Bürgermeisterkandidatin von Bündnis 90/Die Grünen, forderte ein stärkeres Maß an Planung und Dezentralisierung von öffentlich gefördertem Wohnraum. Derartige Wohnungen sollten nicht nur geballt zu finden sein, sondern auf die ganze Stadt verteilt, damit beispielsweise auch Erzieherinnen und Erzieher in den Genuss von zentral gelegenen eigenen vier Wänden kommen können, nahe am eigenen Arbeitsplatz. Und bei neuen Baugebieten hätte man immer die Chance, auch solche Gesichtspunkte zu berücksichtigen und entsprechende Entwicklungen anzustoßen und zu steuern.
Bürgermeister Schindling widersprach der Annahme, dass öffentlich geförderter Wohnraum für Berufsgruppen wie beispielsweise Erzieherinnen oder Polizisten gedacht sei, sondern für Bedürftige, die einen entsprechenden Wohnberechtigungsschein vom Sozialamt erhalten haben. Man müsse klar zwischen dem hier diskutierten öffentlich geförderten Wohnraum und "bezahlbaren Wohnungen" unterscheiden - ein Polizist lebe nicht in einer Sozialwohnung, so Schindling.
Kita auf dem Dach?
Auch der im Raum stehende mögliche Bau einer Kindertagesstätte im neuen Wohngebiet auf dem Dach eines Discounters erhitzte die Gemüter. Mesut Cetin (SPD) kritisterte, dass dem Bauvorhabenträger weiterhin zumindest die Möglichkeit gegeben wird, dies so zu unternehmen. Die Sozialdemokraten werten eine solche "Kita auf dem Dach" als nicht kindesgerecht. Das zu bebauende Areal sei groß genug, um eine Kindertagesstätte auch ebenerdig zu errichten.
Es sei noch nachvollziehbar, wenn ein solcher Ort für eine neue Kita gewählt wird, wenn das umliegende Gebiet bereits dicht bebaut ist, wie zum Beispiel in Großstädten. In Hattersheim hätte man jetzt noch den gesamten Planungsspielraum über das noch unbebaute Gebiet. Man könnte alternativ auch eine bodengleiche Kita fest vorschreiben und dafür auf dem Discounterdach zusätzliche Wohnungen entstehen lassen.
Dass eine Kita auf dem Dach eines Supermarktes zwingend schlechter sein soll als eine ganz klassisch auf dem Boden - das wollte Bürgermeister Schindling aus eigener Erfahrung nicht pauschal unterschreiben. Hierzu hat er sich entsprechende Kindertagesstätten persönlich angeschaut, beispielsweise in Frankfurt, und diese verfügen zuweilen über respektable Freiflächen mit Bäumen und Sandkästen, mit grünem Rasen - nur eben "oben". Und wenn der Bauvorhabenträger in der Lage sei, eine Kita mit allen von der Stadt Hattersheim gewünschten Kriterien auf diese Art und Weise zu errichten - dann sei die Frage, ob sich diese auf einem Dach befinden soll, nicht von so großer Tragweite, so Schindling. Das Erfahren von Natur und Wetter sei dort für die Kinder nicht eingeschränkt.
Dass an der "Vorderen Voltastraße" tatsächlich einmal eine Kita auf dem Dach eines Discounters entstehen wird, ist zudem längst noch nicht in Stein gemeißelt. Es gibt bislang lediglich die Möglichkeit, dass es dazu kommen könnte.
Nathalie Ferko machte deutlich, dass die Grünen für Hattersheims Zukunft keinen Kindergarten wollen, der auf einem Discounter steht. Sie verwies auf eine Kindertagesstättensatzung, derzufolge man pro Kind eine gewisse Quadratmeterzahl an Grünfläche - in ihren Augen "Draußenfläche" - brauche. Und der Beschlussvorlage nach wird dies nun potenziell mit Dachfläche gleichgesetzt. Man habe bei diesem Neubaugebiet die Möglichkeit, von Anfang an die Schaffung einer neuen Kita zu fordern - dies ist nach Ansicht von Ferko absolut gut und richtig so. "Aber warum direkt an einer Hauptverkehrsstraße?", fragte sie weiter und stellte fest, dass die Voltastraße nach der Fertigstellung der neuen Wohngebiete genau diesen Status erlangen würde. Zu einer eventuellen Platzierung der Einrichtung auf einem Discounterdach geselle sich dann noch sehr viel Autoverkehr in der direkten Umgebung.
Die Grünen kritisieren vor allem, dass es ungenutzte Alternativen gäbe: Zum Beispiel ein ruhigerer Standort mehr in Richtung Wasserwerk, direkter an der Natur.
Alle Änträge zur "Vorderen Voltastraße" wurden schließlich mehrheitlich mit den Ja-Stimmen der Koalitionsparteien CDU, FDP und FWG angenommen.
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