Die Reihe „Business-Talk“, entwickelt und ersonnen von der Hattersheimer Wirtschaftsförderung, führte am Donnerstag vergangener Woche zur EVIM, dem Evangelischen Verein für Innere Mission in Nassau. In den Räumlichkeiten in der Dürerstraße standen an diesem Abend die Ausführungen von Stefan Berg, dem Leiter des EVIM-Werkstättenverbunds, im Mittelpunkt. Zuvor hatte Bürgermeister Klaus Schindling kurz die anwesenden Gäste begrüßt und dabei betont, dass man in Hattersheim "ganz besonders stolz und froh" darüber sei, dass man mit der EVIM einen Partner an der Seite hat, der bereit ist, "in einem besonderen Tempo und mit einer besonderen Leidenschaft einen expansiven Weg mitzugehen". Partnerschaftlich erlebe man gemeinsam das Wachstum am Standort Hattersheim, und die EVIM stelle dabei einen "Segen für unsere Stadtgesellschaft dar", so Schindling. Teilhabe in Hinblick auf Inklusion stelle bei der EVIM nicht nur einen Versuch dar, sondern einen Weg, ein Konzept, wie man in Hattersheim in wirklich toleranter Vielfalt leben kann.
Stefan Berg beschrieb in seinem Vortrag vor allem das Wirken der EVIM-Werkstätten und damit verbunden die Teilnahme am Arbeitsleben für Menschen mit Behinderungen. Bei dieser Gelegenheit dankte er auch direkt der EVIM Service GmbH, die sich um das Catering an diesem Abend kümmerte und häufig auch für städtische Veranstaltungen herangezogen wird - denn nach dem Vortrag und einem ausführlichen Rundgang durch das Unternehmen sollte die jüngste Auflage des "Business Talks" schließlich mit "genussvollen Gesprächen" ausklingen, sprich: Netzwerken mit leckeren Snacks aus der EVIM-Serviceküche war angesagt.
Sondereinrichtungen = Apartheid?
Bevor es zu den wirtschaftlichen Querverbindungen zwischen EVIM und den hiesigen Unternehmen kam, ordnete Stefan Berg die Werkstätten für Menschen mit Behinderungen zunächst politisch und gesellschaftlich ein. Dabei zitierte er Theresia Degener, ihres Zeichens Juristin und ehemalige Professorin für Recht und Disability Studies, sowie die Vertreterin Deutschlands bei der Ausarbeitung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Sie sagte einst: "Sondereinrichtungen (Werkstätten) für Behinderte sind keine Schonräume, sondern Apartheid." Ein ziemlich "extremes" Zitat, wie Berg findet. Aber damit und mit dem Beitritt Deutschlands zur UN-Behindertenkonvention wurde auch ganz klar eine neue Zeitrechnung eingeläutet: Der Trend zur Betreuung in Sondereinrichtungen wird immer weiter zurückgehen, während die Bestrebungen hin zur Integration von Menschen mit Behinderungen in die Gesellschaft deutlich stärker werden. Und dies sei auch aus Sicht von Stefan Berg der richtige Weg. Sondereinrichtungen, wie eben auch die EVIM-Werkstätten, seien als Zwischenschritt zu sehen, der den Weg (zurück) in die Gesellschaft ermöglichen soll.
Produktion
Vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung von Werkstätten als lebenslange Arbeitsstätte für Menschen mit Behinderungen weiter an Bedeutung verlieren. Im Gegenzug wird es künftig viel mehr darum gehen, über berufliche Bildung und die Unterstützung der persönlichen Entwicklung eine letztendliche Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt zu unterstützen, sofern die jeweilige Person dies wünscht. "Viele Menschen kommen zu uns, viele verlassen uns aber auch wieder in Richtung Betriebe, Richtung Gesellschaft", berichtete Berg.
Die Arbeit in der Produktion wird dabei immer mehr zu einem Ort des Lernens und der beruflichen Bildung. Die EVIM-Werkstätten nehmen deshalb vor allem Arbeitsaufträge an, die den Beschäftigen "nutzen". Die Menschen sollen an der Produktion wachsen können und Schlüsselqualifikationen erlernen: Pünktlichkeit, gepflegtes Erscheinungsbild, Stressresistenz, angemessenes Sozialverhalten: "Das sind Themen, mit denen wir uns ganz stark auseinandersetzen, weil sie Voraussetzungen sind, um später auch in einem Betrieb arbeiten zu können", stellte Stefan Berg fest. "Bei uns geht es nicht um den wirtschaftlichen Erfolg. Bei uns geht es darum. Menschen zu begleiten."
All das führt dazu, dass sich die Rolle der Beschäftigten mit Beeinträchtigung mehr und mehr wandelt: Weg vom Arbeitnehmer, hin zum Kunden der jeweiligen Werkstatt.
Diese Entwicklung steht im großen Kontrast zur Anfangszeit der Werkstätten in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. In der Nachkriegszeit und der Zeit des Wirtschaftswunders ging es erst einmal primär darum, Menschen mit Beeinträchtigungen oder geistigen Behinderungen eine Tagesstruktur anbieten zu können und Schutzräume zu schaffen, gerade nach den Euthanasieverbrechen des Dritten Reiches.
Heute hingegen sind die sozialen Systeme sehr weit entwickelt, weshalb der Blick eher in die umgekehrte Richtung geht: Nicht mehr rein in den Schutzraum, sondern raus aus selbigem und rein in die Gesellschaft, lautet aktuell die Maxime. Reiche Gesellschaften wie Deutschland können sich das leisten, so Berg - vor vier Jahren schaute er sich im Kontrast dazu mal die Behindertenhilfe in Marokko an, und dort herrschen ganz andere Probleme als hier, was dazu führt, dass dort noch immer der umgekehrte Weg gegangen wird.
Bildung
Auch die berufliche Bildung zur Vorbereitung auf den ersten Arbeitsmarkt wird immer wichtiger. Dabei orientiert man sich auch an den üblichen Ausbildungsrahmenplänen von Ausbildungsberufen. Die vermittelten Lerninhalte finden sich allesamt auch in den üblichen "normalen" Ausbildungen wieder - nur nicht vollumfänglich und in der kompletten Tiefe, so Berg.
Gegebenenfalls zieht man die Vermittlung in die betriebliche Ausbildung stets internen Qualifikationen vor. Wenn man feststellt, dass ein Mensch ausbildungsfähig ist, dann würde man bei EVIM nicht selbst tätig werden und eigene Ausbildungsplätze schaffen, sondern man würde sich bemühen, eine Vermittlung direkt in einen Betrieb zu bewerkstelligen, um die Menschen möglichst kurz an EVIM zu binden und vor allem den Weg in die Gesellschaft zu unterstützen.
Die Arbeit dient primär als Lernort und nicht vorrangig der Beschäftigung. Und auch die digitale Bildung für Menschen mit Beeinträchtigungen ist heutzutage unverzichtbar. "Da haben wir schon wahnsinnig viel auf den Weg gebracht, gerade in der Arbeit mit psychisch kranken Menschen", berichtete Stefan Berg. "Wir haben Lernplattformen, wir haben Klienten, die als Trainer ausgebildet sind und andere Kollegen anleiten." So arbeiten beispielsweise auch EVIM-Klienten in der Hattersheimer EKOM-Postfiliale an den Kassen und den Computersystemen der Post. Und in den letzten Jahren habe man bereits etwa ein halbes Dutzend Klienten aus dieser Filiale heraus in andere, reguläre Postfilialen vermittelt, die nicht von den EVIM-Werkstätten betrieben werden. "Und so soll es ja auch sein", resümierte der Werkstättenleiter.
Erfolge des EVIM-Werkstättenverbunds
Der Erfolg gibt dem Konzept der EVIM-Werkstätten recht: Jährlich kann man auf 700 bis 900 Firmenkunden als Auftraggeber blicken, wobei der Umfang der Aufträge stark variiert. Mal werden nur vier Klienten für zwei bis drei Tage beschäftigt, mal umfassen die Aufträge aber auch ein ganzes Jahr und gleich 40 bis 50 Menschen.
Allein in Hattersheim werden in den EVIM-Ladengeschäften (Bäckerei, Post, Hofladen und Fahrradwerkstatt) täglich zwischen 350 und 500 Kundinnen und Kunden bedient.
Im Hattersheimer Schlockerhof sind aktuell etwa 210 Klienten beschäftigt, in der 2018 eröffneten EKOM-Post-Partnerfiliale im ehemaligen Sarotti-Pförtnerhäuschen circa 115 Klienten.
Der Schlockerhof wurde einst als großflächige, landwirtschaftlich geprägte Einrichtung gegründet. In den achtziger Jahren wurden die Gebäude und das Gelände dann von der Familie Schlocker an EVIM übergeben und in eine soziale Einrichtung umgewandelt, die sich auf die Betreuung und Förderungen von Menschen mit unterschiedlichsten Behinderungen spezialisiert hat. Seit Jahrzehnten ist der Schlockerhof nun schon ein etablierter Baustein in Sachen Teilhabe und Inklusion im Main-Taunus-Kreis.



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