Die Verbrechen von einst dürfen nie vergessen werden

Novemberpogrome 1938: Gedenkveranstaltung im Hattersheimer Stadtmuseum am 9. November

Der Chor der Jüdischen Gemeinde Frankfurt präsentierte im Verlauf der Gedenkveranstaltung mehrere Lieder.

Das Stadtmuseum war am vergangenen Donnerstag, 9. November, der zentrale Ort für das praktizierte Gedenken an die Novemberpogrome im Jahre 1938 in Hattersheim. Die Erste Stadträtin Heike Seibert führte nach ihrer herzlichen Begrüßung der zahlreich erschienenen Gäste aus, was die damaligen Geschehnisse für die Opfer in Deutschland und speziell auch in Hattersheim, Eddersheim und Okriftel bedeuteten. Während des Pogroms wurden im ganzen Reich über 1.400 Synagogen zerstört, und auch in den hiesigen drei Stadtteilen wurden die Wohnungen und Geschäfte der Mitglieder der jüdischen Gemeinde, deren Wurzeln bis in das 17. Jahrhundert reichen, verwüstet. Jüdische Männer wurden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Insgesamt 18 Personen sind heute namentlich bekannt, die in Hattersheim, Eddersheim und Okriftel von den Ausschreitungen betroffen waren. Eine Schadensmeldung für eine Synagoge in Hattersheim liegt für den November 1938 nicht vor - eine solche gab es zu diesem Zeitpunkt wohl schon nicht mehr.

"Wer am Morgen des 10. Novembers durch Deutschlands Straßen ging, der musste glauben, dass über Nacht ein Feuersturm durch das Reich gerast war", zitierte die Erste Stadträtin den Autor Wilfred Mairgünther und vermittelte so eindringlich ein Bild der offensichtlichen Folgen des Hasses, angestiftet und organisiert vom nationalsozialistischen Regime, der sich am Vortag in Form von Gewalt gegen Juden entladen hatte. "Ein Geisterheer, eine Plünderungsarmee" hatte sich über alles, was dem Anschein nach jüdisch war, hergemacht.

Antisemitistische Politik und Hetze gegen die jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger führten vor 85 Jahren zu einer unbeschreiblichen Welle der Zerstörung von jüdischen Geschäften und Gotteshäusern. Und die jüngsten gewaltsamen Entwicklungen in Nahost und die auch hierzulande sicht- und spürbaren Reaktionen darauf sorgen dafür, dass die Geschehnisse vom 9. November 1938 heute wieder eine erschreckende Aktualität erhalten haben, wenn Jüdinnen und Juden ihre Herkunft und Identität wieder verstecken müssen. "Weil ein gravierender Antisemitismus sie erneut bedroht, und das mitten unter uns", mahnte Heike Seibert an und forderte ein, dass man sowohl die Verbrechen von einst niemals vergessen dürfe als auch heute an der Seite der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger stehen müsse.

Die Erste Stadträtin zitierte ihren eigenen Schwiegervater: "Mädchen, wir müssen gut auf die Demokratie Acht geben!" Vor vier Jahren ist dieser im Alter von 93 Jahren verstorben, und er hatte in seinem Leben genug gesehen, um nur allzu gut zu wissen, wovon er sprach. Seibert richtete einen leidenschaftlichen Appell an das Publikum: Man dürfe Freiheit und Menschenwürde nie als Selbstverständlichkeit erachten und müsse für die Bewahrung der Demokratie eintreten. Will man die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erfolgreich führen, so müsse man den Nationalsozialismus als Teil der Geschichte der Moderne, der totalitären Utopien begreifen. Es sei ein Fehler, wenn man das Dritte Reich mit seiner Blut-und-Boden-Ideologie und seinem Germanenkult als vergangene Epoche verortet oder als singuläres Ausnahmeereignis begreift, und nicht als Teil der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Den Kampf für Freiheit gilt es auch heute noch im Angesicht von Extremisten jeder Couleur fortzusetzen. Ein Blick in die nicht allzu ferne Vergangenheit des Dritten Reiches zeigt deutlich auf, was geschieht, wenn Maßstäbe verrückt werden, der Respekt vor der Würde jedes Einzelnen verloren geht und Menschen vom Subjekt zum Objekt gemacht werden. Deshalb gedenkt man an diesem Tag der Opfer von Hass, Hetze und Menschenfeinlichkeit und setzt ein Zeichen gegen das Vergessen.

Gedenken an Rosa Junker

Musikalisch untermalt wurde die Gedenkveranstaltung zwischen den Redebeiträgen von den Mitgliedern des Chores der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, den „Shalom Singers“, die mehrere Lieder aus ihrem Repertoire zu Gehör brachten.

Ursprünglich war geplant, dass sich im Anschluss die Teilnehmenden gemeinsam mit Mitgliedern der AG Opfergedenken auf den Weg in die Untertorstraße machen, um dort symbolisch einen der insgesamt 81 Stolpersteine für die Opfer des Nationalsozialismus im Hattersheimer Stadtgebiet zu reinigen. Dies war leider angesichts des anhaltend starken Regens nicht möglich, jedoch wurde der Leidensweg der Frau hinter dem Stolperstein, Rosa Junker, von Margarethe Schmitt-Reinhart von der AG Opfergedenken und Anja Pinkowsky vom Hattersheimer Stadtarchiv ausführlich beschrieben.

Rosa Junker, geborene Marx, kam am 21. Oktober 1872 in Wallhausen als Tochter des Metzgermeisters Moses Marx und seiner Ehefrau Elisabetha zur Welt. Im Alter von 38 Jahren heiratete sie Josef Junker – eine in der damaligen Zeit insbesondere auf dem Lande ungewöhnliche Ehe, war Junker doch nicht jüdischen Glaubens. Kurze Zeit nach ihrer Eheschließung im Januar 1911 zog das Paar nach Hattersheim in die Okrifteler Straße.

Als nach 1933 die antisemitischen Diskriminierungen einsetzten, war auch Rosa Junker davon betroffen. Geschäfte durfte sie nicht mehr betreten, öffentliche Verkehrsmittel nicht mehr nutzen. Als Misch-Ehepartnerin war Rosa Junker von den im Oktober 1941 einsetzenden Deportationen jedoch zunächst ausgenommen. Josef Junker berichtete nach dem Krieg von der immensen seelischen Belastung, unter der seine Ehefrau angesichts des Schickals ihrer Freunde und Verwandten gelitten hatte. Als sie im Mai 1943 eine Vorladung erhielt, vier Tage später in der Frankfurter Gestapozentrale vorstellig zu werden, erlitt Rosa Junker einen vollständigen Nervenzusammenbruch. Da sie deshalb zum befohlenen Termin nicht erscheinen konnte, wurde sie verhaftet und in die Krankenstation der Bezirksstelle der Reichsvereinigung der Juden im Frankfurter Hermesweg gebracht, zum damaligen Zeitpunkt ein Sammellager für Deportationen. Das Haus stand unter ständiger Überwachung und Tyrannei der Gestapo – man kann nur erahnen, was Rosa Junker dort miterleben musste. Ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich, sie konnte nicht mehr vom Bett aufstehen und wurde von den Deportationen der verbliebenen Insassen zurückgestellt. Wie ein Wunder mutete es an, als sie im Juni 1943 auf Fürsprache des im Hermesweg tätigen jüdischen Arztes nach Hause entlassen wurde. Zeitlebens blieb Rosa Junker gezeichnet von ihren Erlebnissen, sie entwickelte eine chronische Herzmuskelschwäche und konnte einer Tätigkeit mehr nachgehen. Ihr Todesdatum ist der 15. Juni 1960.

Führungen des Geschichtsvereins

Vor der Gedenkveranstaltung hatte der Hattersheimer Geschichtsverein 1985 e. V. bereits zu zwei Themenführung im Stadtmuseum eingeladen, in deren Rahmen die Geschichte von Hattersheimer Unternehmen in der Zeit des Nationalsozialismus vorgestellt wurde. Ergänzend dazu hat das Stadtarchiv eine digitale Ausstellung zu den Ereignissen rund um das Novemberpogrom in Hattersheim, Eddersheim und Okriftel entwickelt, die vor Ort auf den extra für das Stadtmuseum neu eingerichteten Tablets abgerufen werden kann.

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