„Wenn man mich bei einer Festlichkeit als Theologe enttarnt hat, stellt man mir oft die Frage, ob die Kirche eine Zukunft hat, dann antworte ich: Nein, nicht die Kirche, die wir kennen. Aber theologisch hat sie eine Zukunft.“ Mit diesen Worten begann der Kirchenhistoriker Prof. Dr. Markus Wriedt seinen Vortrag. Er lehrt an der Goethe Universität in Frankfurt und ist außerdem Pfarrer im Ehrenamt in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN). Am letzten Donnerstag im April hatten sich viele Gäste in der Evangelischen Auferstehungskirche versammelt, um den Ausführungen von Prof. Wriedt zuzuhören. Pfarrerin Carmen Schneider hatte in ihren Einführungsworten betont, dass die geplanten Veränderungen in der evangelischen Kirche unter dem Motto ekhn2030 an Schärfe zugelegt hätten, vor allen Dingen deshalb, weil schon beschlossene Ideen zu Nachbarschaftsräumen in jüngster Zeit wieder umgeworfen wurden.
Was ist Kirche?
Luther definierte Kirche als ein Haus mit Steinen, in dem sich die Gemeinde Gottes versammelt. „Wir sind Kirche“, ist die Definition von Prof. Wriedt. „Was sehen wir in unserer Kirche?“, ist seine nächste Frage an die Zuhörer. Antwort: „Leere Gebäude, Menschen, die zerbrechen, viele Repräsentanten der Kirche, die überfordert sind.“
Schon im Jahr 1675 veröffentlichte der Theologe Philipp Jacob Spener, zu der Zeit als Senior in Frankfurt tätig, eine Schrift zur Besserung der evangelischen Kirchen, in der er den Mangel an wahrem Glauben beklagte. Wriedt meinte, dass man daran, dass auch heute noch Reformen anstehen, erkennt, wie zäh die kirchlichen Strukturen sind. Als Kritik an der Kirche kann man auch die 1901 gemachte Aussage von Alfred Loisy, einem französisch katholischen Theologen, sehen, der bemerkte: „Jesus Christus verkündete das Reich Gottes. Was kam, war die Kirche.“
Trotz allem glauben viele Menschen an die Kirche, so wie es im Augsburgischen Bekenntnis niedergeschrieben ist. „Die Kirche aber ist die Versammlung der Heiligen, in der das Evangelium rein gelehrt wird und die Sakramente recht verwaltet werden.“ Mit „Heiligen“ sind im evangelischen Sinne die Gläubigen in einem Geist gemeint. Luther schrieb 1523, dass die Gemeinde über die Auslegung der Schrift zu urteilen habe und sie den Pfarrer wähle, also eine basisdemokratische Ordnung in der Kirche herrschen solle. Die wahre, geglaubte Kirche ist verborgen, es handelt sich nicht um eine sichtbare Organisationsstruktur, erläuterte Wriedt. Anfechtung und Zweifel gehören für ihn zum Glauben dazu.
Gefährdung der Kirche
„Leute, lest die Bibel“, so lautetet die Aufforderung von Markus Wriedt, denn diese ist der zentrale Punkt der Kirche. Die Nichtbeachtung und der nonchalante Umgang mit der Schrift führen seiner Meinung nach zu einem Verlust der Schriftautorität.
Eine weitere Gefährdung der Kirche geht vom Machtmissbrauch aus, denn Macht korrumpiert. Seine Beobachtungen sind, dass sich die „Studentenmäuschen“, wenn sie die Autorität ihres Amtes spüren, oftmals in „veritable Ratten“ verwandeln.
Auch der Antichrist gefährdet die Kirche. Doch was ist ein Antichrist? Das ist derjenige, der über die Auslegung der heiligen Schrift verfügt, ihr eine ultimative Eindeutigkeit gibt und nicht fragt, ob es andere Möglichkeiten der Auslegung gibt. Eine solche Haltung ist höchst gefährlich und führt dazu, dass die kirchlichen Meinungen den gesellschaftlichen Gegebenheiten angepasst werden. Es ist wichtig immer wieder um die Schriftauslegung neu zu ringen.
Hoffnung
Die Zukunft der Kirche liegt nicht in dem Dasein als bürokratische Stelle, sondern darin, dass sie Gegenstand des Glaubens ist. Die Kirche ist eine Gemeinschaft der Christen. Was er unter einem Christen versteht, definiert Wriedt ganz deutlich: „Christen sind Menschen, die mir helfen mit meinem Leben zurechtzukommen und Wege weisen, wo ich keine mehr sehe. Diese Einstellung, den Willen zur Liebe, zum Trösten und Zuhören, müssen wir in der Kirche in unserem Glauben wahr werden lassen.“
Weiter geht Wriedt auf den Erneuerungsprozess (ekhn2030) der evangelischen Kirche in Hessen und Nassau ein. Der Leitgedanke, das Narrativ des Prozesses ist „Licht und Luft zum Glauben“. Bei den Zielvorgaben findet man beispielsweise die Schlagworte: finanzielle und strukturelle Erneuerung, weniger Gebäudebesitz, Wirkungsfelder vernetzen. Wriedt betonte, dass die Schlagworte ähnlich klängen wie die der vielen Bildungsreformprogramme, die er in seiner Karriere schon mitgemacht habe. Einsparungen stehen im Fokus. Er sieht die Hauptaufgabe der Kirche in dem Glauben an die Zusage Gottes, welcher der Gemeinschaft der Gläubigen eine Zukunft verheißen habe. Alles andere betrachtet er als sekundär. Der lebendige Glaube, die Schrift, die Sakramente und die Gegenwart Gottes, das sind für ihn die Kernpunkte.
70 Jahre Auferstehungskirche
Zum Schluss gratulierte Markus Wriedt der evangelischen Auferstehungskirche zu ihrem 70-jährigen Jubiläum. In ihrem gewählten Namen, wie auch in dem Symbol des auferstandenen Christus läge die Osterhoffnung, meinte er. In einem kurzen Rückblick auf die Geschehnisse im Jahr 1953 erwähnte er den Tod Stalins, die Krönung von Elisabeth II. von England, den Aufstand in der DDR vom 17. Juni und das Luxemburger Abkommen zur Wiedergutmachung. Auch damals war die Weltlage nicht besser als heute und trotz aller Not und Ungewissheit haben die evangelischen Krifteler und Kriftelerinnen den Mut aufgebracht, eine Kirche zu bauen. Er forderte auf, sich auf diesen Elan zu besinnen und für den weiteren Weg die Punkte Heils- und Glaubensgewissheit sowie Gottvertrauen an die erste Stelle zu stellen, getreu dem Motto „Auf dein Wort hin will ich es wagen“ (Lk 5,5). Markus Wriedt ist zuversichtlich: „Ja, die Kirche hat eine Zukunft. Es wird immer Menschen geben, die vom Wort Gottes ergriffen sind und sie werden eine Organisationsform finden, wie sie ihren Glauben praktizieren können.“
Pfarrerin Carmen Schneider bedankte sich herzlich mit einem Weinpräsent bei Prof. Wriedt für seine Ausführungen, die keinen der Zuhörer unberührt gelassen hatten. Einige Fragen kamen gleich aus dem Publikum, viele Gedanken wurden noch beim Verlassen der Kirche untereinander ausgetauscht.
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