Eine lange Schlange von Schülerinnen und Schülern läuft lebhaft gestikulierend zum Rathaus. Eigentlich ist Schulzeit, aber heute hat die R7a eine besondere Stunde.
Fragestunde im Rathaus mit „dem Chef von Kriftel“, Bürgermeister Christian Seitz.
Marlene Krüger, ihre Lehrerin für Politik und Wirtschaft, kurz Powi, hat sie gut darauf vorbereit. Gemeinsam haben sie Fragenkomplexe oder – heute sagt man mindmaps - entwickelt. Sie wollen wissen, wie das so läuft in der Gemeinde. Das sei ja die kleinste Stufe der Demokratie.
Nach einem vielstimmigen „Guten Morgen, Herr Seitz“ geht es in den Sitzungssaal. Ein gut gelaunter Bürgermeister sitzt locker vor seinen jungen Zuhörern und erklärt Kriftel. Sie erfahren so einiges darüber, wie ihre Heimatgemeinde funktioniert. Und dass sich die kommunale Ebene besonders dafür eigne, Politik in die eigene Hand zu nehmen. „Mit seiner Stimme hat jeder Wähler unmittelbar Einfluss darauf, wie sich sein Kreistag, seine Gemeindevertretung oder sein Ortsbeirat künftig zusammensetzt“, betont Seitz. Wer außer den Bürgerinnen und Bürgern könne besser mitentscheiden, wie die finanziellen Mittel zum Beispiel für Kinderspielplätze, Verkehrsberuhigungen oder Radwege im Ortsteil genutzt werden sollen, lautet seine rhetorische Frage.
Per Jugendwerkstatt bei der Gemeinde „mitmachen“
Stichwort: Kinderbeirat. Seitz möchte wissen, ob jemand in der Grundschule dort dabei war. Beredtes Schweigen, betretene Stille. Also keiner. Das findet der Bürgermeister ausgesprochen „schade“. „Dabei geht es doch da um eure Interessen“, führt er weiter aus. Da könne man zum Beispiel Anträge für seine Sache formulieren. Auch das neue Projekt „Jugendwerkstatt“ kommt zur Sprache. 60 Jugendliche wurden ausgewählt, um in der Gemeinde mitzumachen - Seitz wünscht sich mehr aktive Beteiligung der jungen Leute. Richtig begeistert sieht keiner in der R7a aus. „Ach, ruft mich doch einfach an“, muntert Seitz die Klasse auf und verspricht: “Ich gehe ran.“
Der Bürgermeister wirbt bei den Jugendlichen dafür, sich zu engagieren und einzubringen – gerade auch bei Themen, die jungen Leute betreffen. „Sollen denn zum Beispiel Senioren über neue Skateranlagen entscheiden, oder wäre es da nicht besser, wenn auch ihr jungen Menschen da mitredet? Ihr benutzt die Anlage ja dann schließlich auch“, meint Seitz. Also, lautet sein Fazit, wenn sich niemand in Kriftel engagieren würde, dann fände auch nichts statt. Kriftels Leitspruch „Ohne Dich geht Kriftel nich“ sei deshalb absolut richtig und wichtig für die Gemeinschaft und betreffe alle Generationen.
Das liebe Geld
Apropos Gemeinschaft. Die koste Geld. Der Bürgermeister lässt die jungen Zuhörer raten, wie viel. Jetzt kommt Leben in die Bude. Es geht zu wie auf dem Basar. 15.000 Euro bietet eine Schülerin. 80.000 fliegen in den Saal. Drei Millionen traut sich einer. Seitz schüttelt lächelnd den Kopf. 80.000 Euro? Dafür gebe es gerade mal zwei Spielgeräte, rückt er die Dimension zurecht und mit der Wahrheit heraus: 30 Millionen brauche die Gemeinde jedes Jahr. Unglaubliches Erstaunen bei den Kindern. „Wie bekommt Ihr das Geld?“, wird er von Schülerin Nil gefragt. Steuern und Abgaben machen viel aus, erklärt Seitz. Die Unternehmen – und Kriftel habe so einige davon – müssen Gewerbesteuern zahlen und keine Miete, wie eine Schülerin meint.
Demokratie schützen
Das wichtigste Thema des Tages ist und bleibt das Engagement für die Demokratie. Eindringlich appelliert der Bürgermeister, sich für die Demokratie einzusetzen und warnt: „Sonst wacht ihr eines Tages vielleicht in einer Diktatur auf.“ Seitz weiß, wovon er spricht. Kommt er doch gerade aus Pilawa Gorna, der polnischen Partnerstadt Kriftels, zurück. Dorthin brachte er mit vielen Helfern zwei LKWs voll mit Hilfsgütern und Spenden für Flüchtlinge aus der Ukraine. Beim Thema Ukraine wird es still im Raum. Die Kinder wollen wissen, was in den LKWs war. Klopapier, Kleidung, Nahrungsmittel und vieles Nötige. „60 Flüchtlinge hat Kriftel mittlerweile aufgenommen“, konstatiert Seitz beim Treffen vergangene Woche. Aber er sei sich sicher, es würden mehr.
Danach ist der Klimaschutz dran. Was die „Regierung in Kriftel“ da tue? Seitz verweist auf ökologische Neubauprojekte, selten gemähte Insektenwiesen und Energiesparmaßnahmen. Klassensprecherin Nil will wissen, was er so als Bürgermeister mache. Das sei von Tag zu Tag sehr unterschiedlich und immer wieder spannend, gibt Seitz zurück. „Kein Tag ist wieder andere.“ Viele Termine, viele Reden, aber auch Vereinsfeiern und Beerdigungen gehörten dazu. Felix´ Frage, ob Seitz schon als Kind Bürgermeister werden wollte, verneint er. Die Antwort, wie gut er als Schüler war, beruhigt die Klasse: eher mittelmäßig.
Wollten Sie schon als Kind Bürgermeister werden?
„Wer von Euch weiß denn schon, was er werden will?“, fragt Seitz jetzt in die Runde. Da fliegen die Finger hoch. Von der Architektin über Polizistin bis hin zur Künstlerin reicht die Bandbreite. „Ich wusste das in eurem Alter noch nicht“, gibt Seitz freimütig zu. Er sei über den Mauerfall zur Politik gekommen und habe aus dem Hobby den Beruf gemacht.
Eines wird im Laufe der Diskussion klar. Für Politik interessiert sich in dieser Klasse niemand. Einer spielt Fußball im Verein. Aber das sei ja kein ehrenamtliches Organisieren eines Fußballturniers, bedauert der Bürgermeister. Schüler Akran will noch wissen, ob Seitz Bodyguards habe. Das interessiert. Alle lauschen gespannt. Seitz muss die Erwartungen enttäuschen. „Ich bin auch ganz froh darüber“, gibt er zu. Das sei ja das Gute in Kriftel. Hier gäbe es keine Bedrohungen oder Drohmails. Da hätten es andere Bürgermeister schon schwerer in Hessen.
Seitz nutzt die Gelegenheit noch einmal dazu, eindrücklich zu warnen. „Konflikten muss man schon in den Anfängen entgegentreten“. Und er nennt Mobbing als Beispiel.
Gewinn für alle
„Die Kinder sind mit 13 noch jung“, konstatiert Seitz nach dem Treffen. Da könne noch einiges an Gemeinschaftsgefühl heranwachsen. Lehrerin Krüger erinnert daran, wie wichtig das Fach Powi für ein demokratisches Bewusstsein der Kinder sei. „Das Thema Demokratie sollte fächerübergreifend im Lehrplan verankert sein“, wünscht sie sich.
Ihre R7a weiß jetzt auch, dass ihr Bürgermeister kein Veganer ist („bin mehr der Schnitzeltyp“), TikTok nicht nutzt und eine in der Klasse unbekannte Spezialität namens „Handkäs‘“ schätzt. Sie weiß aber auch, wie wichtig Demokratie schon im Kleinen für eine freie Gesellschaft ist. Schüler Siraj zeigt sich von der Diskussion begeistert: „Alle Klassen sollen den Bürgermeister ab jetzt besuchen!“
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