"Es gibt chronische Aktualitäten"

Auftritt des Ensembles der BüchnerBühne anlässlich des 80. Jahrestages des Kriegsendes in Europa

mpk

Es war ein ungewöhnliches, zum Datum jedoch außerordentlich gut passendes Vorprogramm, das am vergangenen Donnerstag in der Hattersheimer Stadthalle vor der Stadtverordnetenversammlung buchstäblich über die Bühne ging. Anlässlich des 80. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa, treffenderweise auch als Tag der Befreiung bekannt, präsentierte das Ensemble der BüchnerBühne aus Riedstadt Auszüge aus „Die Schule der Diktatoren“, einem satirischen Drama von Erich Kästner aus dem Jahre 1956.

Die BüchnerBühne ist in Hattersheim bereits bekannt: Vor zwei Jahren stürmten sie bereits als schwarz gekleidete Aktivistinnen und Aktivisten die Stadthalle, mit Zeitungen wedelnd und "Extrablatt! Extrablatt!" rufend. Damals wie heute fand zu diesem Zeitpunkt eine Stadtverordnetenversammlung statt. Der damalige Anlass: 175 Jahre Revolution 1848/1849. Unter dem Titel „So zieht die Freiheit durch alle Lande“ überraschte die BüchnerBühne seinerzeit an vielen Orten die Menschen in der Öffentlichkeit mit ihrer Darbietung.

Bevor die Schauspielerinnen und Schauspieler in der Stadthalle am Donnerstag vorübergehend das Kommando übernahmen, hielt die Erste Stadträtin Heike Seibert eine eindringliche Rede zu den damaligen Verhältnissen, zum Krieg - und was jener mit den Menschen macht. Dies beschrieb sie anhand der Geschichte ihres Großvaters Hermann. Jener war zwar von "kleiner und schmächtiger Gestalt", hatte jedoch ein gutes Auge, weshalb er schon früh im Familienbetrieb, einem Fotoatelier, seinem Vater bei der Arbeit half. Dieses Talent führte schließlich dazu, dass er - gegen seinen Willen - als Scharfschütze in den Krieg ziehen musste, instrumentalisiert durch ein totalitäres Regime, das eine "Herrschaft mit einem uneingeschränkten Verfügungsanspruch über die Beherrschten und über die öffentlich-gesellschaftliche Sphäre hinaus in den privaten Bereich ausübte", beschrieb Seibert. Ihr Großvater überlebte den Krieg, sie selbst wurde 34 Jahre nach Kriegsende geboren und wuchs auf in den "Resten der deutsch-französischen und deutsch-amerikanischen Freundschaft." Die Erste Stadträtin forderte dazu auf, sich bewusst zu machen, dass vor 80 Jahren der Zweite Weltkrieg endete, der 60 Millionen Todesopfer, verheerende Zerstörung und unfassbares Leid über die Menschen brachte. "Der Zerstörung folgte ein langer Wiederaufbau. Das Leid sollte noch länger anhalten. Aber es war der Tag der Befreiung. Des Aufbaus, des Neuanfangs. Es war der Tag des Beginns der Demokratie", führte Seibert weiter aus und schlug den Bogen zur Gegenwart: Demokratie sei kein Selbstverständnis. Weder führte Chinas Öffnung für die Marktwirtschaft zu Demokratie und Rechtsstaat, noch bewahrte Putins Russland den Frieden - statt dessen entwickelte sich das Land zu einer neo-imperialistischen Nation, die einen Angriffskrieg gegen die Ukraine vom Zaun brach. Und das politische Handel eines Donald Trump entzieht den USA gerade endgültig das "Prädikat des Vorbilds der Freiheit", so Seibert.

Angesichts all dieser Entwicklungen braucht es gerade heutzutage weiterhin ein wachsames Auge im Sinne der Demokratie - und zu deren Schutz.

"Staatsstreich der Technik"

„Das Anliegen ist älter und das Thema, leider, nicht veraltet. Es gibt chronische Aktualitäten.“ Mit diesen Worten beschrieb Erich Kästner den Inhalt seines Stücks „Die Schule der Diktatoren“. Das Ensemble der BüchnerBühne nahm sich diesem Stoff an und interpretierte ihn neu. In Hattersheim präsentierten sie nun einen etwa halbstündigen Auszug aus dem Drama, vor dessen eigentlicher Premiere in voller Länge.

Der Inhalt: In einem erfundenen Staat fällt ein auf Lebenszeit eingesetzter Diktator einem Attentat zum Opfer. Das Volk bemerkt davon nichts - es bekommt vom Regime immer wieder heimlich ein neues Double des ursprünglichen Machthabers als „Präsident“ vorgesetzt. Ausgebildet werden diese "Klone" in der namensgebenden Schule der Diktatoren, die ein unbegrenztes Fortbestehen der Machtverhältnisse zu garantieren scheint – bis sich eines Tages ein Idealist dort einschleicht: Der mittlerweilte siebte Doppelgänger folgt nicht mehr willenlos den Anweisungen des Regimes, sondern strebt sogar einen Putsch an. Letztendlich wird dieser jedoch auch nur inszeniert, und die einstigen Verschwörer werden auch wieder durch Marionetten des Regimes ersetzt.

Kästner verfasste „Die Schule der Diktatoren“ unter dem Eindruck der Diktaturen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und thematisierte die Mechanismen der Manipulierbarkeit der Gesellschaft sowie den Missbrauch politischer Macht. Schauspieler Frederick Lankau, der den "Premier" verkörperte, gab den Stadtverordneten nach dem hochverdienten Applaus nach einer beeindruckenden Vorstellung noch einen Satz mit auf den Weg, den Kästner anlässlich der Nazi-Propagandamaschine geschrieben hatte: "Die Technik des Staatsstreichs hat mit dem Staatsstreich der Technik zu rechnen." Gerade in Zeiten von Fake News, Künstlicher Intelligenz sowie Bot- und Trollfarmen, die in sozialen Netzwerken Propaganda verbreiten und versuchen, die Wahrheit zu entwerten, ist dieser Satz besonders aktuell.

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